Kant: AA IV, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 235

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 eine Wirklichkeit im Raume und der Zeit bezeichnet, nachdem sie auf die      
  02 eine oder die andere Art der sinnlichen Anschauung bezogen wird. Ist      
  03 Empfindung einmal gegeben (welche, wenn sie auf einen Gegenstand überhaupt,      
  04 ohne diesen zu bestimmen, angewandt wird, Wahrnehmung heißt),      
  05 so kann durch die Mannigfaltigkeit derselben mancher Gegenstand in der      
  06 Einbildung gedichtet werden, der außer der Einbildung im Raume oder      
  07 der Zeit keine empirische Stelle hat. Dieses ist ungezweifelt gewiß; man      
  08 mag nun die Empfindungen Lust und Schmerz, oder auch der äußeren      
  09 Sinne, als Farben, Wärme etc. nehmen, so ist Wahrnehmung dasjenige,      
  10 wodurch der Stoff, um Gegenstände der sinnlichen Anschauung zu denken,      
  11 zuerst gegeben werden muß. Diese Wahrnehmung stellt also (damit wir      
  12 diesmal nur bei äußeren Anschauungen bleiben) etwas Wirkliches im      
  13 Raume vor. Denn erstlich ist Wahrnehmung die Vorstellung einer Wirklichkeit,      
  14 so wie Raum die Vorstellung einer bloßen Möglichkeit des Beisammenseins.      
  15 Zweitens wird diese Wirklichkeit vor dem äußeren Sinn,      
  16 d. i. im Raume, vorgestellt. Drittens ist der Raum selbst nichts anders      
  17 als bloße Vorstellung; mithin kann in ihm nur das als wirklich gelten,      
  18 was in ihm vorgestellt*) wird, und umgekehrt, was in ihm gegeben, d. i.      
  19 durch Wahrnehmung vorgestellt wird, ist in ihm auch wirklich; denn wäre      
  20 es in ihm nicht wirklich, d. i. unmittelbar durch empirische Anschauung      
  21 gegeben, so könnte es auch nicht erdichtet werden, weil man das Reale      
  22 der Anschauungen gar nicht a priori erdenken kann.      
           
  23 Alle äußere Wahrnehmung also beweiset unmittelbar etwas Wirkliches      
  24 im Raume, oder ist vielmehr das Wirkliche selbst, und in so fern ist      
  25 also der empirische Realismus außer Zweifel, d. i. es correspondirt unseren      
  26 äußeren Anschauungen etwas Wirkliches im Raume. Freilich ist der      
  27 Raum selbst mit allen seinen Erscheinungen als Vorstellungen nur in mir,      
  28 aber in diesem Raume ist doch gleichwohl das Reale oder der Stoff aller      
  29 Gegenstände äußerer Anschauung wirklich und unabhängig von aller Erdichtung      
           
    *)Man muß diesen paradoxen, aber richtigen Satz wohl merken: daß im Raume nichts sei, als was in ihm vorgestellt wird. Denn der Raum ist selbst nichts anders als Vorstellung; folglich was in ihm ist, muß in der Vorstellung enthalten sein, und im Raume ist gar nichts, außer so fern es in ihm wirklich vorgestellt wird. Ein Satz, der allerdings befremdlich klingen muß, daß eine Sache nur in der Vorstellung von ihr existiren könne, der aber hier das Anstößige verliert, weil die Sachen, mit denen wir es zu thun haben, nicht Dinge an sich, sondern nur Erscheinungen, d. i. Vorstellungen, sind.      
           
     

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