Kant: AA IV, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 200 |
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01 | entlehnt wird, sondern welches sogar die Begriffe des Verstandes, mit denen | ||||||
02 | sich Aristoteles beschäftigte, weit übersteigt, indem in der Erfahrung | ||||||
03 | niemals etwas damit Congruirendes angetroffen wird. Die Ideen sind | ||||||
04 | bei ihm Urbilder der Dinge selbst und nicht blos Schlüssel zu möglichen | ||||||
05 | Erfahrungen, wie die Kategorien. Nach seiner Meinung flossen sie aus | ||||||
06 | der höchsten Vernunft aus, von da sie der menschlichen zu Theil geworden, | ||||||
07 | die sich aber jetzt nicht mehr in ihrem ursprünglichen Zustande befindet, | ||||||
08 | sondern mit Mühe die alte, jetzt sehr verdunkelte Ideen durch Erinnerung | ||||||
09 | (die Philosophie heißt) zurückrufen muß. Ich will mich hier in keine litterarische | ||||||
10 | Untersuchung einlassen, um den Sinn auszumachen, den der erhabene | ||||||
11 | Philosoph mit seinem Ausdrucke verband. Ich merke nur an, daß | ||||||
12 | es gar nichts Ungewöhnliches sei sowohl im gemeinen Gespräche, als in | ||||||
13 | Schriften, durch die Vergleichung der Gedanken, welche ein Verfasser über | ||||||
14 | seinen Gegenstand äußert, ihn sogar besser zu verstehen, als er sich selbst | ||||||
15 | verstand, indem er seinen Begriff nicht genugsam bestimmte und dadurch | ||||||
16 | bisweilen seiner eigenen Absicht entgegen redete oder auch dachte. | ||||||
17 | Plato bemerkte sehr wohl, daß unsere Erkenntnißkraft ein weit | ||||||
18 | höheres Bedürfniß fühle, als blos Erscheinungen nach synthetischer Einheit | ||||||
19 | buchstabiren, um sie als Erfahrung lesen zu können, und daß unsere | ||||||
20 | Vernunft natürlicher Weise sich zu Erkenntnissen aufschwinge, die viel | ||||||
21 | weiter gehen, als daß irgend ein Gegenstand, den Erfahrung geben kann, | ||||||
22 | jemals mit ihnen congruiren könne, die aber nichtsdestoweniger ihre Realität | ||||||
23 | haben und keinesweges bloße Hirngespinste sind. | ||||||
24 | Plato fand seine Ideen vorzüglich in allem, was praktisch ist*), d. i. | ||||||
25 | auf Freiheit beruht, welche ihrerseits unter Erkenntnissen steht, die ein | ||||||
26 | eigenthümliches Product der Vernunft sind. Wer die Begriffe der Tugend | ||||||
27 | aus Erfahrung schöpfen wollte, wer das, was nur allenfalls als Beispiel | ||||||
28 | zur unvollkommenen Erläuterung dienen kann, als Muster zum Erkenntnißquell | ||||||
29 | machen wollte (wie es wirklich viele gethan haben), der würde aus | ||||||
30 | der Tugend ein nach Zeit und Umständen wandelbares, zu keiner Regel | ||||||
*) Er dehnte seinen Begriff freilich auch auf speculative Erkenntnisse aus, wenn sie nur rein und völlig a priori gegeben waren, sogar über die Mathematik, ob diese gleich ihren Gegenstand nirgend anders als in der möglichen Erfahrung hat. Hierin kann ich ihm nun nicht folgen, so wenig als in der mystischen Deduction dieser Ideen oder den Übertreibungen, dadurch er sie gleichsam hypostasirte; wiewohl die hohe Sprache, deren er sich in diesem Felde bediente, einer milderen und der Natur der Dinge angemessenen Auslegung ganz wohl fähig ist. | |||||||
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