Kant: AA IV, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 188 |
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Text (Kant):
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01 | Der |
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02 | Transscendentalen Logik |
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03 | Zweite Abtheilung. |
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04 | Die |
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05 | Transscendentale Dialektik. |
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06 | Einleitung. |
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07 | I |
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08 | Vom transscendentalen Schein. |
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09 | Wir haben oben die Dialektik überhaupt eine Logik des Scheins | ||||||
10 | genannt. Das bedeutet nicht, sie sei eine Lehre der Wahrscheinlichkeit; | ||||||
11 | denn diese ist Wahrheit, aber durch unzureichende Gründe erkannt, deren | ||||||
12 | Erkenntniß also zwar mangelhaft, aber darum doch nicht trüglich ist und | ||||||
13 | mithin von dem analytischen Theile der Logik nicht getrennt werden muß. | ||||||
14 | Noch weniger dürfen Erscheinung und Schein für einerlei gehalten | ||||||
15 | werden. Denn Wahrheit oder Schein sind nicht im Gegenstande, so fern | ||||||
16 | er angeschaut wird, sondern im Urtheile über denselben, so fern er gedacht | ||||||
17 | wird. Man kann also zwar richtig sagen, daß die Sinne nicht irren, aber | ||||||
18 | nicht darum weil sie jederzeit richtig urtheilen, sondern weil sie gar nicht | ||||||
19 | urtheilen. Daher sind Wahrheit sowohl als Irrthum, mithin auch der | ||||||
20 | Schein als die Verleitung zum letzteren nur im Urtheile, d. i. nur in dem | ||||||
21 | Verhältnisse des Gegenstandes zu unserm Verstande, anzutreffen. In | ||||||
22 | einem Erkenntniß, das mit den Verstandesgesetzen durchgängig zusammenstimmt, | ||||||
23 | ist kein Irrthum. In einer Vorstellung der Sinne ist (weil sie | ||||||
24 | gar kein Urtheil enthält) auch kein Irrthum. Keine Kraft der Natur kann | ||||||
25 | aber von selbst von ihren eigenen Gesetzen abweichen. Daher würden | ||||||
26 | weder der Verstand für sich allein (ohne Einfluß einer andern Ursache) | ||||||
27 | noch die Sinne für sich irren: der erstere darum nicht, weil, wenn er blos | ||||||
28 | nach seinen Gesetzen handelt, die Wirkung (das Urtheil) mit diesen Gesetzen | ||||||
29 | nothwendig übereinstimmen muß. In der Übereinstimmung mit | ||||||
30 | den Gesetzen des Verstandes besteht aber das Formale aller Wahrheit. | ||||||
31 | In den Sinnen ist gar kein Urtheil, weder ein wahres noch falsches. Weil | ||||||
32 | wir nun außer diesen beiden Erkenntnißquellen keine andere haben, so | ||||||
33 | folgt: daß der Irrthum nur durch den unbemerkten Einfluß der Sinnlichkeit | ||||||
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