Kant: AA IV, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 116 |
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| 01 | Anticipation nennen, und ohne Zweifel ist das die Bedeutung, in welcher | ||||||
| 02 | Epikur seinen Ausdruck προληψισ brauchte. Da aber an den Erscheinungen | ||||||
| 03 | etwas ist, was niemals a priori erkannt wird, und welches daher | ||||||
| 04 | auch den eigentlichen Unterschied des empirischen von dem Erkenntniß | ||||||
| 05 | a priori ausmacht, nämlich die Empfindung (als Materie der Wahrnehmung), | ||||||
| 06 | so folgt, daß diese es eigentlich sei, was gar nicht anticipirt werden | ||||||
| 07 | kann. Dagegen würden wir die reine Bestimmungen im Raume und der Zeit | ||||||
| 08 | sowohl in Ansehung der Gestalt als Größe Anticipationen der Erscheinungen | ||||||
| 09 | nennen können, weil sie dasjenige a priori vorstellen, was immer | ||||||
| 10 | a posteriori in der Erfahrung gegeben werden mag. Gesetzt aber, es finde | ||||||
| 11 | sich doch etwas, was sich an jeder Empfindung als Empfindung überhaupt | ||||||
| 12 | (ohne daß eine besondere gegeben sein mag) a priori erkennen läßt: | ||||||
| 13 | so würde dieses im ausnehmenden Verstande Anticipation genannt zu | ||||||
| 14 | werden verdienen, weil es befremdlich scheint, der Erfahrung in demjenigen | ||||||
| 15 | vorzugreifen, was gerade die Materie derselben angeht, die man nur aus | ||||||
| 16 | ihr schöpfen kann. Und so verhält es sich hier wirklich. | ||||||
| 17 | Die Apprehension blos vermittelst der Empfindung erfüllt nur einen | ||||||
| 18 | Augenblick (wenn ich nämlich nicht die Succession vieler Empfindungen | ||||||
| 19 | in Betracht ziehe). Als etwas in der Erscheinung, dessen Apprehension | ||||||
| 20 | keine successive Synthesis ist, die von Theilen zur ganzen Vorstellung fortgeht, | ||||||
| 21 | hat sie also keine extensive Größe: der Mangel der Empfindung in | ||||||
| 22 | demselben Augenblicke würde diesen als leer vorstellen, mithin = 0. Was | ||||||
| 23 | nun in der empirischen Anschauung der Empfindung correspondirt, ist | ||||||
| 24 | Realität ( realitas phaenomenon ), was dem Mangel derselben entspricht, | ||||||
| 25 | Negation = 0. Nun ist aber jede Empfindung einer Verringerung fähig, | ||||||
| 26 | so daß sie abnehmen und so allmählig verschwinden kann. Daher ist | ||||||
| 27 | zwischen Realität in der Erscheinung und Negation ein continuirlicher Zusammenhang | ||||||
| 28 | vieler möglichen Zwischenempfindungen, deren Unterschied | ||||||
| 29 | von einander immer kleiner ist, als der Unterschied zwischen der gegebenen | ||||||
| 30 | und dem Zero oder der gänzlichen Negation. D. i. das Reale in der Erscheinung | ||||||
| 31 | hat jederzeit eine Größe, welche aber nicht in der Apprehension | ||||||
| 32 | angetroffen wird, indem diese vermittelst der bloßen Empfindung in einem | ||||||
| 33 | Augenblicke und nicht durch successive Synthesis vieler Empfindungen geschieht | ||||||
| 34 | und also nicht von den Theilen zum Ganzen geht; es hat also zwar | ||||||
| 35 | eine Größe, aber keine extensive. | ||||||
| 36 | Nun nenne ich diejenige Größe, die nur als Einheit apprehendirt | ||||||
| 37 | wird, und in welcher die Vielheit nur durch Annäherung zur Negation | ||||||
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