Kant: AA IV, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 046

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Linien sich gar kein Raum einschließen lasse, mithin keine Figur      
  02 möglich sei, und versucht ihn aus dem Begriff von geraden Linien und      
  03 der Zahl zwei abzuleiten, oder auch, daß aus drei geraden Linien eine      
  04 Figur möglich sei, und versucht es eben so blos aus diesen Begriffen. Alle      
  05 eure Bemühung ist vergeblich, und ihr seht euch genöthigt, zur Anschauung      
  06 eure Zuflucht zu nehmen, wie es die Geometrie auch jederzeit thut. Ihr      
  07 gebt euch also einen Gegenstand in der Anschauung; von welcher Art aber      
  08 ist diese, ist es eine reine Anschauung a priori oder eine empirische? Wäre      
  09 das letzte, so könnte niemals ein allgemein gültiger, noch weniger ein apodiktischer      
  10 Satz daraus werden: denn Erfahrung kann dergleichen niemals      
  11 liefern. Ihr müßt also euren Gegenstand a priori in der Anschauung      
  12 geben und auf diesen euren synthetischen Satz gründen. Läge nun in euch      
  13 nicht ein Vermögen, a priori anzuschauen; wäre diese subjective Bedingung      
  14 der Form nach nicht zugleich die allgemeine Bedingung a priori,      
  15 unter der allein das Object dieser (äußeren) Anschauung selbst möglich      
  16 ist; wäre der Gegenstand (der Triangel) etwas an sich selbst ohne Beziehung      
  17 auf euer Subject: wie könntet ihr sagen, daß, was in euren subjectiven      
  18 Bedingungen einen Triangel zu construiren nothwendig liegt, auch      
  19 dem Triangel an sich selbst nothwendig zukommen müsse? Denn ihr      
  20 könntet doch zu euren Begriffen (von drei Linien) nichts Neues (die Figur)      
  21 hinzufügen, welches darum nothwendig an dem Gegenstande angetroffen      
  22 werden müßte, da dieser vor eurer Erkenntniß und nicht durch dieselbe gegeben      
  23 ist. Wäre also nicht der Raum (und so auch die Zeit) eine bloße      
  24 Form eurer Anschauung, welche Bedingungen a priori enthält, unter      
  25 denen allein Dinge für euch äußere Gegenstände sein können, die ohne      
  26 diese subjective Bedingungen an sich nichts sind, so könntet ihr a priori      
  27 ganz und gar nichts über äußere Objecte synthetisch ausmachen. Es ist      
  28 also ungezweifelt gewiß und nicht blos möglich oder auch wahrscheinlich,      
  29 daß Raum und Zeit, als die nothwendige Bedingungen aller (äußern      
  30 und innern) Erfahrung, blos subjective Bedingungen aller unsrer Anschauung      
  31 sind, im Verhältniß auf welche daher alle Gegenstände bloße      
  32 Erscheinungen und nicht für sich in dieser Art gegebene Dinge sind, von      
  33 denen sich auch um deswillen, was die Form derselben betrifft, vieles      
  34 a priori sagen läßt, niemals aber das Mindeste von dem Dinge an sich      
  35 selbst, das diesen Erscheinungen zum Grunde liegen mag.      
           
           
     

[ Seite 045 ] [ Seite 047 ] [ Inhaltsverzeichnis ]