Kant: AA IV, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 012 |
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01 | bleibt: was und wie viel kann Verstand und Vernunft, frei von aller Erfahrung, | ||||||
02 | erkennen? und nicht: wie ist das Vermögen zu denken selbst | ||||||
03 | möglich? Da das letztere gleichsam eine Aufsuchung der Ursache zu einer | ||||||
04 | gegebenen Wirkung ist und in so fern etwas einer Hypothese Ähnliches an | ||||||
05 | sich hat (ob es gleich, wie ich bei anderer Gelegenheit zeigen werde, sich | ||||||
06 | in der That nicht so verhält), so scheint es, als sei hier der Fall, da ich | ||||||
07 | mir die Erlaubniß nehme, zu meinen, und dem Leser also auch frei stehen | ||||||
08 | müsse, anders zu meinen. In Betracht dessen muß ich dem Leser mit der | ||||||
09 | Erinnerung zuvorkommen: daß, im Fall meine subjective Deduction nicht | ||||||
10 | die ganze Überzeugung, die ich erwarte, bei ihm gewirkt hätte, doch die | ||||||
11 | objective, um die es mir hier vornehmlich zu thun ist, ihre ganze Stärke | ||||||
12 | bekomme, wozu allenfalls dasjenige, was Seite 92 bis 93 gesagt wird, | ||||||
13 | allein hinreichend sein kann. | ||||||
14 | Was endlich die Deutlichkeit betrifft, so hat der Leser ein Recht, | ||||||
15 | zuerst die discursive (logische) Deutlichkeit durch Begriffe, dann | ||||||
16 | aber auch eine intuitive (ästhetische) Deutlichkeit durch Anschauungen, | ||||||
17 | d. i. Beispiele oder andere Erläuterungen in concreto , zu fordern. | ||||||
18 | Für die erste habe ich hinreichend gesorgt. Das betraf das Wesen meines | ||||||
19 | Vorhabens, war aber auch die zufällige Ursache, daß ich der zweiten, obzwar | ||||||
20 | nicht so strengen, aber doch billigen Forderung nicht habe Gnüge | ||||||
21 | leisten können. Ich bin fast beständig im Fortgange meiner Arbeit unschlüssig | ||||||
22 | gewesen, wie ich es hiemit halten sollte. Beispiele und Erläuterungen | ||||||
23 | schienen mir immer nöthig und flossen daher auch wirklich im | ||||||
24 | ersten Entwurfe an ihren Stellen gehörig ein. Ich sah aber die Größe | ||||||
25 | meiner Aufgabe und die Menge der Gegenstände, womit ich es zu thun | ||||||
26 | haben würde, gar bald ein; und da ich gewahr ward, daß diese ganz allein | ||||||
27 | im trockenen, blos scholastischen Vortrage das Werk schon gnug ausdehnen | ||||||
28 | würden, so fand ich es unrathsam, es durch Beispiele und Erläuterungen, | ||||||
29 | die nur in populärer Absicht nothwendig sind, noch mehr anzuschwellen, | ||||||
30 | zumal diese Arbeit keineswegs dem populären Gebrauche angemessen | ||||||
31 | werden könnte und die eigentliche Kenner der Wissenschaft diese | ||||||
32 | Erleichterung nicht so nöthig haben, ob sie zwar jederzeit angenehm ist, | ||||||
33 | hier aber sogar etwas Zweckwidriges nach sich ziehen konnte. Abt Terrasson | ||||||
34 | sagt zwar: wenn man die Größe eines Buchs nicht nach der Zahl | ||||||
35 | der Blätter, sondern nach der Zeit mißt, die man nöthig hat, es zu verstehen, | ||||||
36 | so könne man von manchem Buche sagen: daß es viel kürzer | ||||||
37 | sein würde, wenn es nicht so kurz wäre. Andererseits aber, wenn | ||||||
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