Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 549 |
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01 | stehen bleiben, und daß die menschliche Vernunft, welche schon durch die | ||||||
02 | Richtung ihrer Natur dialektisch ist, einer solchen Wissenschaft niemals | ||||||
03 | entbehren könne, die sie zügelt und durch ein scientifisches und völlig einleuchtendes | ||||||
04 | Selbsterkenntniß die Verwüstungen abhält, welche eine gesetzlose | ||||||
05 | speculative Vernunft sonst ganz unfehlbar in Moral sowohl als Religion | ||||||
06 | anrichten würde. Man kann also sicher sein, so spröde oder geringschätzend | ||||||
07 | auch diejenige thun, die eine Wissenschaft nicht nach ihrer Natur, | ||||||
08 | sondern allein aus ihren zufälligen Wirkungen zu beurtheilen wissen, man | ||||||
09 | werde jederzeit zu ihr wie zu einer mit uns entzweiten Geliebten zurückkehren, | ||||||
10 | weil die Vernunft, da es hier wesentliche Zwecke betrifft, rastlos | ||||||
11 | entweder auf gründliche Einsicht oder Zerstörung schon vorhandener guten | ||||||
12 | Einsichten arbeiten muß. | ||||||
13 | Metaphysik also sowohl der Natur, als der Sitten, vornehmlich die | ||||||
14 | Kritik der sich auf eigenen Flügeln wagenden Vernunft, welche vorübend | ||||||
15 | (propädeutisch) vorhergeht, machen eigentlich allein dasjenige aus, was | ||||||
16 | wir im ächten Verstande Philosophie nennen können. Diese bezieht alles | ||||||
17 | auf Weisheit, aber durch den Weg der Wissenschaft, den einzigen, der, | ||||||
18 | wenn er einmal gebahnt ist, niemals verwächst und keine Verirrungen | ||||||
19 | verstattet. Mathematik, Naturwissenschaft, selbst die empirische Kenntniß | ||||||
20 | des Menschen haben einen hohen Werth als Mittel größtentheils zu zufälligen, | ||||||
21 | am Ende aber doch zu nothwendigen und wesentlichen Zwecken | ||||||
22 | der Menschheit, aber alsdann nur durch Vermittelung einer Vernunfterkenntniß | ||||||
23 | aus bloßen Begriffen, die, man mag sie benennen, wie man | ||||||
24 | will, eigentlich nichts als Metaphysik ist. | ||||||
25 | Eben deswegen ist Metaphysik auch die Vollendung aller Cultur der | ||||||
26 | menschlichen Vernunft, die unentbehrlich ist, wenn man gleich ihren Einfluß | ||||||
27 | als Wissenschaft auf gewisse bestimmte Zwecke bei Seite setzt. Denn | ||||||
28 | sie betrachtet die Vernunft nach ihren Elementen und obersten Maximen, | ||||||
29 | die selbst der Möglichkeit einiger Wissenschaften und dem Gebrauche | ||||||
30 | aller zum Grunde liegen müssen. Daß sie als bloße Speculation mehr | ||||||
31 | dazu dient, Irrthümer abzuhalten, als Erkenntniß zu erweitern, thut | ||||||
32 | ihrem Werthe keinen Abbruch, sondern giebt ihr vielmehr Würde und | ||||||
33 | Ansehen durch das Censoramt, welches die allgemeine Ordnung und Eintracht, | ||||||
34 | ja den Wohlstand des wissenschaftlichen gemeinen Wesens sichert | ||||||
35 | und dessen muthige und fruchtbare Bearbeitungen abhält, sich nicht von | ||||||
36 | dem Hauptzwecke, der allgemeinen Glückseligkeit, zu entfernen. | ||||||
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