Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 523 |
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01 | Die erste Frage ist bloß speculativ. Wir haben (wie ich mir schmeichele) | ||||||
02 | alle mögliche Beantwortungen derselben erschöpft und endlich diejenige | ||||||
03 | gefunden, mit welcher sich die Vernunft zwar befriedigen muß und, | ||||||
04 | wenn sie nicht aufs Praktische sieht, auch Ursache hat zufrieden zu sein, | ||||||
05 | sind aber von den zwei großen Zwecken, worauf diese ganze Bestrebung der | ||||||
06 | reinen Vernunft eigentlich gerichtet war, eben so weit entfernt geblieben, | ||||||
07 | als ob wir uns aus Gemächlichkeit dieser Arbeit gleich anfangs verweigert | ||||||
08 | hätten. Wenn es also um Wissen zu thun ist, so ist wenigstens so viel | ||||||
09 | sicher und ausgemacht, daß uns dieses in Ansehung jener zwei Aufgaben | ||||||
10 | niemals zu Theil werden könne. | ||||||
11 | Die zweite Frage ist bloß praktisch. Sie kann als eine solche zwar | ||||||
12 | der reinen Vernunft angehören, ist aber alsdann doch nicht transscendental, | ||||||
13 | sondern moralisch, mithin kann sie unsere Kritik an sich selbst nicht | ||||||
14 | beschäftigen. | ||||||
15 | Die dritte Frage, nämlich: wenn ich nun thue, was ich soll, was darf | ||||||
16 | ich alsdann hoffen? ist praktisch und theoretisch zugleich, so daß das Praktische | ||||||
17 | nur als ein Leitfaden zu Beantwortung der theoretischen und, wenn | ||||||
18 | diese hoch geht, speculativen Frage führt. Denn alles Hoffen geht auf | ||||||
19 | Glückseligkeit und ist in Absicht auf das Praktische und das Sittengesetz | ||||||
20 | eben dasselbe, was das Wissen und das Naturgesetz in Ansehung der theoretischen | ||||||
21 | Erkenntniß der Dinge ist. Jenes läuft zuletzt auf den Schluß | ||||||
22 | hinaus, daß etwas sei (was den letzten möglichen Zweck bestimmt), weil | ||||||
23 | etwas geschehen soll; dieses, daß etwas sei (was als oberste Ursache | ||||||
24 | wirkt), weil etwas geschieht. | ||||||
25 | Glückseligkeit ist die Befriedigung aller unserer Neigungen (sowohl | ||||||
26 | extensive der Mannigfaltigkeit derselben, als intensive dem Grade und | ||||||
27 | auch protensive der Dauer nach). Das praktische Gesetz aus dem Bewegungsgrunde | ||||||
28 | der Glückseligkeit nenne ich pragmatisch (Klugheitsregel); | ||||||
29 | dasjenige aber, wofern ein solches ist, das zum Bewegungsgrunde nichts | ||||||
30 | anderes hat, als die Würdigkeit, glücklich zu sein, moralisch (Sittengesetz). | ||||||
31 | Das erstere räth, was zu thun sei, wenn wir der Glückseligkeit | ||||||
32 | wollen theilhaftig, das zweite gebietet, wie wir uns verhalten sollen, um | ||||||
33 | nur der Glückseligkeit würdig zu werden. Das erstere gründet sich auf | ||||||
34 | empirische Principien; denn anders als vermittelst der Erfahrung kann | ||||||
35 | ich weder wissen, welche Neigungen dasind, die befriedigt werden wollen, | ||||||
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