Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 493 |
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01 | Vertheidiger der guten Sache gegen diesen Feind würde ich gar nicht lesen, | ||||||
02 | weil ich zum voraus weiß, daß er nur darum die Scheingründe des anderen | ||||||
03 | angreifen werde, um seinen eigenen Eingang zu verschaffen, überdem ein | ||||||
04 | alltägiger Schein doch nicht so viel Stoff zu neuen Bemerkungen giebt, | ||||||
05 | als ein befremdlicher und sinnreich ausgedachter. Hingegen würde der | ||||||
06 | nach seiner Art auch dogmatische Religionsgegner meiner Kritik gewünschte | ||||||
07 | Beschäftigung und Anlaß zu mehrerer Berichtigung ihrer Grundsätze | ||||||
08 | geben, ohne daß seinetwegen im mindesten etwas zu befürchten wäre. | ||||||
09 | Aber die Jugend, welche dem akademischen Unterrichte anvertrauet | ||||||
10 | ist, soll doch wenigstens vor dergleichen Schriften gewarnt und von der | ||||||
11 | frühen Kenntniß so gefährlicher Sätze abgehalten werden, ehe ihre Urtheilskraft | ||||||
12 | gereift, oder vielmehr die Lehre, welche man in ihnen gründen | ||||||
13 | will, fest gewurzelt ist, um aller Überredung zum Gegentheil, woher sie | ||||||
14 | auch kommen möge, kräftig zu widerstehen? | ||||||
15 | Müßte es bei dem dogmatischen Verfahren in Sachen der reinen | ||||||
16 | Vernunft bleiben, und die Abfertigung der Gegner eigentlich polemisch, | ||||||
17 | d. i. so beschaffen sein, daß man sich ins Gefecht einließe und mit Beweisgründen | ||||||
18 | zu entgegengesetzten Behauptungen bewaffnete, so wäre freilich | ||||||
19 | nichts rathsamer vor der Hand, aber zugleich nichts eiteler und | ||||||
20 | fruchtloser auf die Dauer, als die Vernunft der Jugend eine Zeit lang | ||||||
21 | unter Vormundschaft zu setzen und wenigstens so lange vor Verführung | ||||||
22 | zu bewahren. Wenn aber in der Folge entweder Neugierde, oder der | ||||||
23 | Modeton des Zeitalters ihr dergleichen Schriften in die Hände spielen: | ||||||
24 | wird alsdann jene jugendliche Überredung noch Stich halten? Derjenige, | ||||||
25 | der nichts als dogmatische Waffen mitbringt, um den Angriffen | ||||||
26 | seines Gegners zu widerstehen, und die verborgene Dialektik, die nicht | ||||||
27 | minder in seinem eigenen Busen, als in dem des Gegentheils liegt, nicht | ||||||
28 | zu entwickeln weiß, sieht Scheingründe, die den Vorzug der Neuigkeit | ||||||
29 | haben, gegen Scheingründe, welche dergleichen nicht mehr haben, sondern | ||||||
30 | vielmehr den Verdacht einer mißbrauchten Leichtgläubigkeit der | ||||||
31 | Jugend erregen, auftreten. Er glaubt nicht besser zeigen zu können, daß | ||||||
32 | er der Kinderzucht entwachsen sei, als wenn er sich über jene wohlgemeinte | ||||||
33 | Warnungen wegsetzt; und, dogmatisch gewohnt, trinkt er das Gift, das | ||||||
34 | seine Grundsätze dogmatisch verdirbt, in langen Zügen in sich. | ||||||
35 | Gerade das Gegentheil von dem, was man hier anräth, muß in der | ||||||
36 | akademischen Unterweisung geschehen, aber freilich nur unter der Voraussetzung | ||||||
37 | eines gründlichen Unterrichts in der Kritik der reinen Vernunft. | ||||||
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