Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 469 |
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| 01 | erweitern zu können, als es ihr im mathematischen gelungen ist, wenn | ||||||
| 02 | sie vornehmlich dieselbe Methode dort anwendet, die hier von so augenscheinlichem | ||||||
| 03 | Nutzen gewesen ist. Es liegt uns also viel daran, zu wissen: | ||||||
| 04 | ob die Methode, zur apodiktischen Gewißheit zu gelangen, die man in der | ||||||
| 05 | letzteren Wissenschaft mathematisch nennt, mit derjenigen einerlei sei, womit | ||||||
| 06 | man eben dieselbe Gewißheit in der Philosophie sucht, und die daselbst | ||||||
| 07 | dogmatisch genannt werden müßte. | ||||||
| 08 | Die philosophische Erkenntniß ist die Vernunfterkenntniß aus | ||||||
| 09 | Begriffen, die mathematische aus der Construction der Begriffe. | ||||||
| 10 | Einen Begriff aber construiren, heißt: die ihm correspondirende Anschauung | ||||||
| 11 | a priori darstellen. Zur Construction eines Begriffs wird also | ||||||
| 12 | eine nichtempirische Anschauung erfordert, die folglich, als Anschauung, | ||||||
| 13 | ein einzelnes Object ist, aber nichts destoweniger als die Construction | ||||||
| 14 | eines Begriffs (einer allgemeinen Vorstellung) Allgemeingültigkeit für alle | ||||||
| 15 | mögliche Anschauungen, die unter denselben Begriff gehören, in der Vorstellung | ||||||
| 16 | ausdrücken muß. So construire ich einen Triangel, indem ich | ||||||
| 17 | den diesem Begriffe entsprechenden Gegenstand entweder durch bloße Einbildung | ||||||
| 18 | in der reinen, oder nach derselben auch auf dem Papier in der | ||||||
| 19 | empirischen Anschauung, beidemal aber völlig a priori, ohne das Muster | ||||||
| 20 | dazu aus irgend einer Erfahrung geborgt zu haben, darstelle. Die einzelne | ||||||
| 21 | hingezeichnete Figur ist empirisch und dient gleichwohl, den Begriff unbeschadet | ||||||
| 22 | seiner Allgemeinheit auszudrücken, weil bei dieser empirischen Anschauung | ||||||
| 23 | immer nur auf die Handlung der Construktion des Begriffs, | ||||||
| 24 | welchem viele Bestimmungen, z. E. der Größe, der Seiten und der Winkel, | ||||||
| 25 | ganz gleichgültig sind, gesehen und also von diesen Verschiedenheiten, die | ||||||
| 26 | den Begriff des Triangels nicht verändern, abstrahirt wird. | ||||||
| 27 | Die philosophische Erkenntniß betrachtet also das Besondere nur im | ||||||
| 28 | Allgemeinen, die mathematische das Allgemeine im Besonderen, ja gar im | ||||||
| 29 | Einzelnen, gleichwohl doch a priori und vermittelst der Vernunft, so daß, | ||||||
| 30 | wie dieses Einzelne unter gewissen allgemeinen Bedingungen der Construction | ||||||
| 31 | bestimmt ist, eben so der Gegenstand des Begriffs, dem dieses | ||||||
| 32 | Einzelne nur als sein Schema correspondirt, allgemein bestimmt gedacht | ||||||
| 33 | werden muß. | ||||||
| 34 | In dieser Form besteht also der wesentliche Unterschied dieser beiden | ||||||
| 35 | Arten der Vernunfterkenntniß und beruht nicht auf dem Unterschiede ihrer | ||||||
| 36 | Materie oder Gegenstände. Diejenigen, welche Philosophie von Mathematik | ||||||
| 37 | dadurch zu unterscheiden vermeinten, daß sie von jener sagten, sie | ||||||
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