Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 398 |
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01 | nothwendig anzusehen, vermittelst des Worts: Unbedingt wegwerfen, | ||||||
02 | macht mir noch lange nicht verständlich, ob ich alsdann durch einen Begriff | ||||||
03 | eines Unbedingtnothwendigen noch etwas, oder vielleicht gar nichts | ||||||
04 | denke. | ||||||
05 | Noch mehr: diesen auf das bloße Gerathewohl gewagten und endlich | ||||||
06 | ganz geläufig gewordenen Begriff hat man noch dazu durch eine Menge | ||||||
07 | Beispiele zu erklären geglaubt, so daß alle weitere Nachfrage wegen seiner | ||||||
08 | Verständlichkeit ganz unnöthig geschienen. Ein jeder Satz der Geometrie, | ||||||
09 | z. B. daß ein Triangel drei Winkel habe, ist schlechthin nothwendig; und | ||||||
10 | so redete man von einem Gegenstande, der ganz außerhalb der Sphäre | ||||||
11 | unseres Verstandes liegt, als ob man ganz wohl Verstände, was man mit | ||||||
12 | dem Begriffe von ihm sagen wolle. | ||||||
13 | Alle vorgegebene Beispiele sind ohne Ausnahme nur von Urtheilen, | ||||||
14 | aber nicht von Dingen und deren Dasein hergenommen. Die unbedingte | ||||||
15 | Nothwendigkeit der Urtheile aber ist nicht eine absolute Nothwendigkeit | ||||||
16 | der Sachen. Denn die absolute Nothwendigkeit des Urtheils ist nur eine | ||||||
17 | bedingte Nothwendigkeit der Sache, oder des Prädicats im Urtheile. Der | ||||||
18 | vorige Satz sagte nicht, daß drei Winkel schlechterdings nothwendig sind, | ||||||
19 | sondern, unter der Bedingung, daß ein Triangel da ist (gegeben ist), sind | ||||||
20 | auch drei Winkel (in ihm) nothwendiger Weise da. Gleichwohl hat diese | ||||||
21 | logische Nothwendigkeit eine so große Macht ihrer Illusion bewiesen, daß, | ||||||
22 | indem man sich einen Begriff a priori von einem Dinge gemacht hatte, | ||||||
23 | der so gestellt war, daß man seiner Meinung nach das Dasein mit in seinen | ||||||
24 | Umfang begriff, man daraus glaubte sicher schließen zu können, daß, weil | ||||||
25 | dem Object dieses Begriffs das Dasein nothwendig zukommt, d. i. unter | ||||||
26 | der Bedingung, daß ich dieses Ding als gegeben (existirend) setze, auch | ||||||
27 | sein Dasein nothwendig (nach der Regel der Identität) gesetzt werde, und | ||||||
28 | dieses Wesen daher selbst schlechterdings nothwendig sei, weil sein Dasein | ||||||
29 | in einem nach Belieben angenommenen Begriffe und unter der Bedingung, | ||||||
30 | daß ich den Gegenstand desselben setze, mit gedacht wird. | ||||||
31 | Wenn ich das Prädicat in einem identischen Urtheile aufhebe und | ||||||
32 | behalte das Subject, so entspringt ein Widerspruch, und daher sage ich: | ||||||
33 | jenes kommt diesem nothwendiger Weise zu. Hebe ich aber das Subject | ||||||
34 | zusammt dem Prädicate auf, so entspringt kein Widerspruch; denn es ist | ||||||
35 | nichts mehr, welchem widersprochen werden könnte. Einen Triangel | ||||||
36 | setzen und doch die drei Winkel desselben aufheben, ist widersprechend, aber | ||||||
37 | den Triangel sammt seinen drei Winkeln aufheben, ist kein Widerspruch. | ||||||
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