Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 387

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 durchgängig a priori bestimmten Begriffe läutere und dadurch der Begriff      
  02 von einem einzelnen Gegenstande werde, der durch die bloße Idee durchgängig      
  03 bestimmt ist, mithin ein Ideal der reinen Vernunft genannt      
  04 werden muß.      
           
  05 Wenn wir alle mögliche Prädicate nicht bloß logisch, sondern transscendental,      
  06 d. i. nach ihrem Inhalte, der an ihnen a priori gedacht werden      
  07 kann, erwägen, so finden wir, daß durch einige derselben ein Sein, durch      
  08 andere ein bloßes Nichtsein vorgestellt wird. Die logische Verneinung, die      
  09 lediglich durch das Wörtchen Nicht angezeigt wird, hängt eigentlich niemals      
  10 einem Begriffe, sondern nur dem Verhältnisse desselben zu einem      
  11 andern im Urtheile an und kann also dazu bei weitem nicht hinreichend      
  12 sein, einen Begriff in Ansehung seines Inhalts zu bezeichnen. Der Ausdruck      
  13 Nichtsterblich kann gar nicht zu erkennen geben, daß dadurch ein      
  14 bloßes Nichtsein am Gegenstande vorgestellt werde, sondern läßt allen      
  15 Inhalt unberührt. Eine transscendentale Verneinung bedeutet dagegen      
  16 das Nichtsein an sich selbst, dem die transscendentale Bejahung entgegengesetzt      
  17 wird, welche ein Etwas ist, dessen Begriff an sich selbst schon ein      
  18 Sein ausdrückt und daher Realität (Sachheit) genannt wird, weil durch      
  19 sie allein, und so weit sie reicht, Gegenstände Etwas (Dinge) sind, die      
  20 entgegenstehende Negation hingegen einen bloßen Mangel bedeutet und,      
  21 wo diese allein gedacht wird, die Aufhebung alles Dinges vorgestellt wird.      
           
  22 Nun kann sich niemand eine Verneinung bestimmt denken, ohne daß      
  23 er die entgegengesetzte Bejahung zum Grunde liegen habe. Der Blindgeborne      
  24 kann sich nicht die mindeste Vorstellung von Finsterniß machen,      
  25 weil er keine vom Lichte hat; der Wilde nicht von Armuth, weil er den      
  26 Wohlstand nicht kennt.*) Der Unwissende hat keinen Begriff von seiner      
  27 Unwissenheit, weil er keinen von der Wissenschaft hat, u. s. w. Es sind also      
  28 auch alle Begriffe der Negationen abgeleitet, und die Realitäten enthalten      
  29 die Data und so zu sagen die Materie oder den transscendentalen Inhalt      
  30 zu der Möglichkeit und durchgängigen Bestimmung aller Dinge.      
           
  31 Wenn also der durchgängigen Bestimmung in unserer Vernunft ein      
           
    *) Die Beobachtungen und Berechnungen der Sternkundigen haben uns viel Bewundernswürdiges gelehrt, aber das Wichtigste ist wohl, daß sie uns den Abgrund der Unwissenheit aufgedeckt haben, den die menschliche Vernunft ohne diese Kenntnisse sich niemals so groß hätte vorstellen können, und worüber das Nachdenken eine große Veränderung in der Bestimmung der Endabsichten unseres Vernunftgebrauchs hervorbringen muß.      
           
     

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