Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 372

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 und Ansehen entgegen setzt. Es mag ein Gegenstand der bloßen Sinnlichkeit      
  02 (das Angenehme) oder auch der reinen Vernunft (das Gute) sein:      
  03 so giebt die Vernunft nicht demjenigen Grunde, der empirisch gegeben ist,      
  04 nach und folgt nicht der Ordnung der Dinge, so wie sie sich in der Erscheinung      
  05 darstellen; sondern macht sich mit völliger Spontaneität eine      
  06 eigene Ordnung nach Ideen, in die sie die empirischen Bedingungen hinein      
  07 paßt, und nach denen sie sogar Handlungen für nothwendig erklärt,      
  08 die doch nicht geschehen sind und vielleicht nicht geschehen werden, von      
  09 allen aber gleichwohl voraussetzt, daß die Vernunft in Beziehung auf sie      
  10 Causalität haben könne; denn ohne das würde sie nicht von ihren Ideen      
  11 Wirkungen in der Erfahrung erwarten.      
           
  12 Nun laßt uns hiebei stehen bleiben und es wenigstens als möglich      
  13 annehmen: die Vernunft habe wirklich Causalität in Ansehung der Erscheinungen;      
  14 so muß sie, so sehr sie auch Vernunft ist, dennoch einen empirischen      
  15 Charakter von sich zeigen, weil jede Ursache eine Regel voraussetzt,      
  16 darnach gewisse Erscheinungen als Wirkungen folgen, und jede Regel      
  17 eine Gleichförmigkeit der Wirkungen erfordert, die den Begriff der Ursache      
  18 (als eines Vermögens) gründet, welchen wir, so fern er aus bloßen Erscheinungen      
  19 erhellen muß, seinen empirischen Charakter heißen können,      
  20 der beständig ist, indessen die Wirkungen nach Verschiedenheit der begleitenden      
  21 und zum Theil einschränkenden Bedingungen in veränderlichen      
  22 Gestalten erscheinen.      
           
  23 So hat denn jeder Mensch einen empirischen Charakter seiner Willkür,      
  24 welcher nichts anders ist, als eine gewisse Causalität seiner Vernunft,      
  25 so fern diese an ihren Wirkungen in der Erscheinung eine Regel zeigt, darnach      
  26 man die Vernunftgründe und die Handlungen derselben nach ihrer      
  27 Art und ihren Graden abnehmen und die subjectiven Principien seiner      
  28 Willkür beurtheilen kann. Weil dieser empirische Charakter selbst aus den      
  29 Erscheinungen als Wirkung und aus der Regel derselben, welche Erfahrung      
  30 an die Hand giebt, gezogen werden muß: so sind alle Handlungen      
  31 des Menschen in der Erscheinung aus seinem empirischen Charakter und      
  32 den mitwirkenden anderen Ursachen nach der Ordnung der Natur bestimmt;      
  33 und wenn wir alle Erscheinungen seiner Willkür bis auf den Grund erforschen      
  34 könnten, so würde es keine einzige menschliche Handlung geben,      
  35 die wir nicht mit Gewißheit vorhersagen und aus ihren vorhergehenden      
  36 Bedingungen als nothwendig erkennen könnten. In Ansehung dieses      
  37 empirischen Charakters giebt es also keine Freiheit, und nach diesem      
           
     

[ Seite 371 ] [ Seite 373 ] [ Inhaltsverzeichnis ]