Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 350 |
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01 | zu einem gegebenen Bedingten sei an sich endlich oder unendlich; | ||||||
02 | denn dadurch würde eine bloße Idee der absoluten Totalität, die lediglich | ||||||
03 | in ihr selbst geschaffen ist, einen Gegenstand denken, der in keiner Erfahrung | ||||||
04 | gegeben werden kann, indem einer Reihe von Erscheinungen eine | ||||||
05 | von der empirischen Synthesis unabhängige objective Realität ertheilt | ||||||
06 | würde. Die Vernunftidee wird also nur der regressiven Synthesis in der | ||||||
07 | Reihe der Bedingungen eine Regel vorschreiben, nach welcher sie vom Bedingten | ||||||
08 | vermittelst aller einander untergeordneten Bedingungen zum Unbedingten | ||||||
09 | fortgeht, obgleich dieses niemals erreicht wird. Denn das | ||||||
10 | Schlechthin=Unbedingte wird in der Erfahrung gar nicht angetroffen. | ||||||
11 | Zu diesem Ende ist nun erstlich die Synthesis einer Reihe, so fern | ||||||
12 | sie niemals vollständig ist, genau zu bestimmen. Man bedient sich in dieser | ||||||
13 | Absicht gewöhnlich zweier Ausdrücke, die darin etwas unterscheiden sollen, | ||||||
14 | ohne daß man doch den Grund dieser Unterscheidung recht anzugeben weiß. | ||||||
15 | Die Mathematiker sprechen lediglich von einem progressus in infinitum . | ||||||
16 | Die Forscher der Begriffe (Philosophen) wollen an dessen statt nur den | ||||||
17 | Ausdruck von einem progressus in indefinitum gelten lassen. Ohne mich | ||||||
18 | bei der Prüfung der Bedenklichkeit, die diesen eine solche Unterscheidung | ||||||
19 | angerathen hat, und dem guten oder fruchtlosen Gebrauch derselben aufzuhalten, | ||||||
20 | will ich diese Begriffe in Beziehung auf meine Absicht genau | ||||||
21 | zu bestimmen suchen. | ||||||
22 | Von einer geraden Linie kann man mit Recht sagen, sie könne ins | ||||||
23 | Unendliche verlängert werden, und hier würde die Unterscheidung des unendlichen | ||||||
24 | und des unbestimmbar weiten Fortgangs ( progressus in indefinitum ) | ||||||
25 | eine leere Subtilität sein. Denn obgleich, wenn es heißt: ziehet | ||||||
26 | eine Linie fort, es freilich richtiger lautet, wenn man hinzu setzt in indefinitum , | ||||||
27 | als wenn es heißt in infinitum , weil das erstere nicht mehr bedeutet | ||||||
28 | als: verlängert sie, so weit ihr wollet, das zweite aber: ihr sollt niemals | ||||||
29 | aufhören sie zu verlängern (welches hiebei eben nicht die Absicht ist): | ||||||
30 | so ist doch, wenn nur vom Können die Rede ist, der erstere Ausdruck ganz | ||||||
31 | richtig; denn ihr könnt sie ins Unendliche immer größer machen. Und so | ||||||
32 | verhält es sich auch in allen Fällen, wo man nur vom Progressus, d. i. | ||||||
33 | dem Fortgange von der Bedingung zum Bedingten, spricht; dieser mögliche | ||||||
34 | Fortgang geht in der Reihe der Erscheinungen ins Unendliche. Von | ||||||
35 | einem Elternpaar könnt ihr in absteigender Linie der Zeugung ohne Ende | ||||||
36 | fortgehen und euch auch ganz wohl denken, daß sie wirklich in der Welt | ||||||
37 | so fortgehe. Denn hier Bedarf die Vernunft niemals absolute Totalität | ||||||
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