Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 346 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | Wenn jemand sagte, ein jeder Körper riecht entweder gut, oder er | ||||||
02 | riecht nicht gut, so findet ein Drittes statt, nämlich daß er gar nicht rieche | ||||||
03 | (ausdufte), und so können beide widerstreitende Sätze falsch sein. Sage | ||||||
04 | ich, er ist entweder wohlriechend, oder er ist nicht wohlriechend ( vel suaveolens | ||||||
05 | vel non suaveolens ): so sind beide Urtheile einander contradictorisch | ||||||
06 | entgegengesetzt, und nur der erste ist falsch, sein contradictorisches Gegentheil | ||||||
07 | aber, nämlich einige Körper sind nicht wohlriechend, befaßt auch die | ||||||
08 | Körper in sich, die gar nicht riechen. In der vorigen Entgegenstellung | ||||||
09 | ( per disparata ) blieb die zufällige Bedingung des Begriffs der Körper | ||||||
10 | (der Geruch) noch bei dem widerstreitenden Urtheile und wurde durch | ||||||
11 | dieses also nicht mit aufgehoben, daher war das letztere nicht das contradictorische | ||||||
12 | Gegentheil des ersteren. | ||||||
13 | Sage ich demnach: die Welt ist dem Raume nach entweder unendlich, | ||||||
14 | oder sie ist nicht unendlich ( non est infinitus ), so muß, wenn der erstere | ||||||
15 | Satz falsch ist, sein contradictorisches Gegentheil: die Welt ist nicht unendlich, | ||||||
16 | wahr sein. Dadurch würde ich nur eine unendliche Welt aufheben, | ||||||
17 | ohne eine andere, nämlich die endliche, zu setzen. Hieße es aber: die Welt | ||||||
18 | ist entweder unendlich, oder endlich (nichtunendlich), so könnten beide | ||||||
19 | falsch sein. Denn ich sehe alsdann die Welt als an sich selbst ihrer Größe | ||||||
20 | nach bestimmt an, indem ich in dem Gegensatz nicht bloß die Unendlichkeit | ||||||
21 | aufhebe und mit ihr vielleicht ihre ganze abgesonderte Existenz, sondern | ||||||
22 | eine Bestimmung zur Welt als einem an sich selbst wirklichen Dinge hinzusetze, | ||||||
23 | welches eben so wohl falsch sein kann, wenn nämlich die Welt gar | ||||||
24 | nicht als ein Ding an sich, mithin auch nicht ihrer Größe nach weder | ||||||
25 | als unendlich, noch als endlich gegeben sein sollte. Man erlaube mir, daß | ||||||
26 | ich dergleichen Entgegensetzung die dialektische, die des Widerspruchs | ||||||
27 | aber die analytische Opposition nennen darf. Also können von zwei | ||||||
28 | dialektisch einander entgegengesetzten Urtheilen alle beide falsch sein, darum | ||||||
29 | weil eines dem andern nicht bloß widerspricht, sondern etwas mehr sagt, | ||||||
30 | als zum Widerspruche erforderlich ist. | ||||||
31 | Wenn man die zwei Sätze: die Welt ist der Größe nach unendlich, | ||||||
32 | die Welt ist ihrer Größe nach endlich, als einander contradictorisch entgegengesetzte | ||||||
33 | ansieht, so nimmt man an, daß die Welt (die ganze Reihe | ||||||
34 | der Erscheinungen) ein Ding an sich selbst sei. Denn sie bleibt, ich mag | ||||||
35 | den unendlichen oder endlichen Regressus in der Reihe ihrer Erscheinungen | ||||||
36 | aufheben. Nehme ich aber diese Voraussetzung oder diesen transscendentalen | ||||||
37 | Schein weg und leugne, daß sie ein Ding an sich selbst sei, so verwandelt | ||||||
[ Seite 345 ] [ Seite 347 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |