Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 324

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 gleich in Ansehung des streitigen Rechts beider Theile nichts ausmacht, dennoch      
  02 den Nutzen haben, es begreiflich zu machen, warum die Theilnehmer an      
  03 diesem Streite sich lieber auf die eine Seite, als auf die andere geschlagen      
  04 haben, ohne daß eben eine vorzügliche Einsicht des Gegenstandes daran      
  05 Ursache gewesen, imgleichen noch andere Nebendinge zu erklären, z. B. die      
  06 zelotische Hitze des einen und die kalte Behauptung des andern Theils,      
  07 warum sie gerne der einen Partei freudigen Beifall zujauchuen und wider      
  08 die andere zum voraus unversöhnlich eingenommen sind.      
           
  09 Es ist aber etwas, das bei dieser vorläufigen Beurtheilung den Gesichtspunkt      
  10 bestimmt, aus dem sie allein mit gehöriger Gründlichkeit angestellt      
  11 werden kann, und dieses ist die Vergleichung der Principien, von      
  12 denen beide Theile ausgehen. Man bemerkt unter den Behauptungen der      
  13 Antithesis eine vollkommene Gleichförmigkeit der Denkungsart und völlige      
  14 Einheit der Maxime, nämlich ein Principium des reinen Empirismus,      
  15 nicht allein in Erklärung der Erscheinungen in der Welt, sondern auch in      
  16 Auflösung der transscendentalen Ideen vom Weltall selbst. Dagegen legen      
  17 die Behauptungen der Thesis außer der empirischen Erklärungsart      
  18 innerhalb der Reihe der Erscheinungen noch intellectuelle Anfänge zum      
  19 Grunde, und die Maxime ist so fern nicht einfach. Ich will sie aber von      
  20 ihrem wesentlichen Unterscheidungsmerkmal den Dogmatism der reinen      
  21 Vernunft nennen.      
           
  22 Auf der Seite also des Dogmatismus in Bestimmung der kosmologischen      
  23 Vernunftideen oder der Thesis zeigt sich      
           
  24 Zuerst ein gewisses praktisches Interesse, woran jeder Wohlgesinnte,      
  25 wenn er sich auf seinen wahren Vortheil versteht, herzlich Theil      
  26 nimmt. Daß die Welt einen Anfang habe, daß mein denkendes Selbst einfacher      
  27 und daher unverweslicher Natur, daß dieses zugleich in seinen willkürlichen      
  28 Handlungen frei und über den Naturzwang erhoben sei, und daß      
  29 endlich die ganze Ordnung der Dinge, welche die Welt ausmachen, von      
  30 einem Urwesen abstamme, von welchem alles seine Einheit und zweckmäßige      
  31 Verknüpfung entlehnt: das sind so viel Grundsteine der Moral und      
  32 Religion. Die Antithesis raubt uns alle diese Stützen, oder scheint wenigstens      
  33 sie uns zu rauben.      
           
  34 Zweitens äußert sich auch ein speculatives Interesse der Vernunft      
  35 auf dieser Seite. Denn wenn man die transscendentale Ideen auf      
  36 solche Art annimmt und gebraucht, so kann man völlig a priori die ganze      
  37 Kette der Bedingungen fassen und die Ableitung des Bedingten begreifen,      
           
     

[ Seite 323 ] [ Seite 325 ] [ Inhaltsverzeichnis ]