Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 323 |
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01 | und unzerstörliche Einheit, oder nichts als das Theilbare und Vergängliche | ||||||
02 | gebe; ob ich in meinen Handlungen frei, oder wie andere Wesen an | ||||||
03 | dem Faden der Natur und des Schicksals geleitet sei; ob es endlich eine | ||||||
04 | oberste Weltursache gebe, oder die Naturdinge und deren Ordnung den | ||||||
05 | letzten Gegenstand ausmachen, bei dem wir in allen unseren Betrachtungen | ||||||
06 | stehen bleiben müssen: das sind Fragen, um deren Auflösung der | ||||||
07 | Mathematiker gerne seine ganze Wissenschaft dahin gäbe; denn diese kann | ||||||
08 | ihm doch in Ansehung der höchsten und angelegensten Zwecke der Menschheit | ||||||
09 | keine Befriedigung verschaffen. Selbst die eigentliche Würde der Mathematik | ||||||
10 | (dieses Stolzes der menschlichen Vernunft) beruht darauf, daß, | ||||||
11 | da sie der Vernunft die Leitung giebt, die Natur im Großen sowohl als | ||||||
12 | im Kleinen in ihrer Ordnung und Regelmäßigkeit, imgleichen in der bewundernswürdigen | ||||||
13 | Einheit der sie bewegenden Kräfte weit über alle Erwartung | ||||||
14 | der auf gemeine Erfahrung bauenden Philosophie einzusehen, sie | ||||||
15 | dadurch selbst zu dem über alle Erfahrung erweiterten Gebrauch der Vernunft | ||||||
16 | Anlaß und Aufmunterung giebt, imgleichen die damit beschäftigte | ||||||
17 | Weltweisheit mit den vortrefflichsten Materialien versorgt, ihre Nachforschung, | ||||||
18 | so viel deren Beschaffenheit es erlaubt, durch angemessene Anschauungen | ||||||
19 | zu unterstützen. | ||||||
20 | Unglücklicher Weise für die Speculation (vielleicht aber zum Glück | ||||||
21 | für die praktische Bestimmung des Menschen) sieht sich die Vernunft mitten | ||||||
22 | unter ihren größten Erwartungen in einem Gedränge von Gründen und | ||||||
23 | Gegengründen so befangen, daß, da es sowohl ihrer Ehre, als auch sogar | ||||||
24 | ihrer Sicherheit wegen nicht thunlich ist, sich zurück zu ziehen und diesem | ||||||
25 | Zwist als einem bloßen Spielgefechte gleichgültig zuzusehen, noch weniger | ||||||
26 | schlechthin Friede zu gebieten, weil der Gegenstand des Streits sehr interessirt, | ||||||
27 | ihr nichts weiter übrig bleibt, als über den Ursprung dieser Veruneinigung | ||||||
28 | der Vernunft mit sich selbst nachzusinnen: ob nicht etwa ein | ||||||
29 | bloßer Mißverstand daran Schuld sei, nach dessen Erörterung zwar beiderseits | ||||||
30 | stolze Ansprüche vielleicht wegfallen, aber dafür ein dauerhaft | ||||||
31 | ruhiges Regiment der Vernunft über Verstand und Sinne seinen Anfang | ||||||
32 | nehmen würde. | ||||||
33 | Wir wollen für jetzt diese gründliche Erörterung noch etwas aussetzen | ||||||
34 | und zuvor in Erwägung ziehen: auf welche Seite wir uns wohl am liebsten | ||||||
35 | schlagen möchten, wenn wir etwa genöthigt würden, Partei zu nehmen. | ||||||
36 | Da wir in diesem Falle nicht den logischen Probirstein der Wahrheit, sondern | ||||||
37 | bloß unser Interesse befragen, so wird eine solche Untersuchung, ob sie | ||||||
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