Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 294

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01
Der Antinomie der reinen Vernunft
     
  02
Erster Widerstreit der transscendentalen Ideen.
     
           
           
  03
Thesis.
     
           
  04 Die Welt hat einen Anfang in der Zeit und ist dem Raume nach      
  05 auch in Grenzen eingeschlossen.      
           
  06
Beweis.
     
           
  07 Denn man nehme an, die Welt habe der Zeit nach keinen Anfang:      
  08 so ist bis zu jedem gegebenen Zeitpunkte eine Ewigkeit abgelaufen und      
  09 mithin eine unendliche Reihe auf einander folgender Zustände der Dinge      
  10 in der Welt verflossen. Nun besteht aber eben darin die Unendlichkeit einer      
  11 Reihe, daß sie durch successive Synthesis niemals vollendet sein kann. Also      
  12 ist eine unendliche verflossene Weltreihe unmöglich, mithin ein Anfang der      
  13 Welt eine nothwendige Bedingung ihres Daseins; welches zuerst zu beweisen      
  14 war.      
           
  15 In Ansehung des zweiten nehme man wiederum das Gegentheil      
  16 an: so wird die Welt ein unendliches gegebenes Ganzes von zugleich      
  17 existirenden Dingen sein. Nun können wir die Größe eines Quanti ,      
  18 welches nicht innerhalb gewisser Grenzen jeder Anschauung gegeben wird,*)      
  19 auf keine andere Art, als nur durch die Synthesis der Theile und die Totalität      
  20 eines solchen Quanti nur durch die vollendete Synthesis, oder durch      
  21 wiederholte Hinzusetzung der Einheit zu sich selbst gedenken.**) Demnach,      
  22 um sich die Welt, die alle Räume erfüllt, als ein Ganzes zu denken, müßte      
           
           
    *) Wir können ein unbestimmtes Quantum als ein Ganzes anschauen, wenn es in Grenzen eingeschlossen ist, ohne die Totalität desselben durch Messung, d. i. die successive Synthesis seiner Theile, construiren zu dürfen. Denn die Grenzen bestimmen schon die Vollständigkeit, indem sie alles Mehrere abschneiden.      
           
    **) Der Begriff der Totalität ist in diesem Falle nichts anderes, als die Vorstellung der vollendeten Synthesis seiner Theile, weil, da wir nicht von der Anschauung des Ganzen (als welche in diesem Falle unmöglich ist) den Begriff abziehen können, wir diesen nur durch die Synthesis der Theile bis zur Vollendung des Unendlichen wenigstens in der Idee fassen können.      
           
     

[ Seite 293 ] [ Seite 295 ] [ Inhaltsverzeichnis ]