Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 292 |
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| 01 | vielmehr ihn selbst zu veranlassen, nicht um endlich zum Vortheile des | ||||||
| 02 | einen oder des andern Theils zu entscheiden, sondern um zu untersuchen, | ||||||
| 03 | ob der Gegenstand desselben nicht vielleicht ein bloßes Blendwerk sei, wornach | ||||||
| 04 | jeder vergeblich hascht, und bei welchem er nichts gewinnen kann, | ||||||
| 05 | wenn ihm gleich gar nicht widerstanden würde: dieses Verfahren, sage ich, | ||||||
| 06 | kann man die sceptische Methode nennen. Sie ist vom Scepticismus | ||||||
| 07 | gänzlich unterschieden, einem Grundsatze einer kunstmäßigen und | ||||||
| 08 | scientifischen Unwissenheit, welcher die Grundlagen aller Erkenntniß untergräbt, | ||||||
| 09 | um wo möglich überall keine Zuverlässigkeit und Sicherheit derselben | ||||||
| 10 | übrig zu lassen. Denn die sceptische Methode geht auf Gewißheit, | ||||||
| 11 | dadurch daß sie in einem solchen auf beiden Seiten redlich gemeinten und | ||||||
| 12 | mit Verstande geführten Streite den Punkt des Mißverständnisses zu entdecken | ||||||
| 13 | sucht, um, wie weise Gesetzgeber thun, aus der Verlegenheit der | ||||||
| 14 | Richter bei Rechtshändeln für sich selbst Belehrung von dem Mangelhaften | ||||||
| 15 | und nicht genau Bestimmten in ihren Gesetzen zu ziehen. Die Antinomie, | ||||||
| 16 | die sich in der Anwendung der Gesetze offenbart, ist bei unserer | ||||||
| 17 | eingeschränkten Weisheit der beste Prüfungsversuch der Nomothetik, um | ||||||
| 18 | die Vernunft, die in abstracter Speculation ihre Fehltritte nicht leicht gewahr | ||||||
| 19 | wird, dadurch auf die Momente in Bestimmung ihrer Grundsätze | ||||||
| 20 | aufmerksam zu machen. | ||||||
| 21 | Diese sceptische Methode ist aber nur der Transscendentalphilosophie | ||||||
| 22 | allein wesentlich eigen und kann allenfalls in jedem anderen Felde der | ||||||
| 23 | Untersuchungen, nur in diesem nicht entbehrt werden. In der Mathematik | ||||||
| 24 | würde ihr Gebrauch ungereimt sein, weil sich in ihr keine falsche Behauptungen | ||||||
| 25 | verbergen und unsichtbar machen können, indem die Beweise jederzeit | ||||||
| 26 | an dem Faden der reinen Anschauung und zwar durch jederzeit evidente | ||||||
| 27 | Synthesis fortgehen müssen. In der Experimentalphilosophie kann | ||||||
| 28 | wohl ein Zweifel des Aufschubs nützlich sein, allein es ist doch wenigstens | ||||||
| 29 | kein Mißverstand möglich, der nicht leicht gehoben werden könnte, und in | ||||||
| 30 | der Erfahrung müssen doch endlich die letzten Mittel der Entscheidung des | ||||||
| 31 | Zwistes liegen, sie mögen nun früh oder spät aufgefunden werden. Die | ||||||
| 32 | Moral kann ihre Grundsätze insgesammt auch in concreto zusammt den | ||||||
| 33 | praktischen Folgen wenigstens in möglichen Erfahrungen geben und dadurch | ||||||
| 34 | den Mißverstand der Abstraction vermeiden. Dagegen sind die | ||||||
| 35 | transscendentalen Behauptungen, welche selbst über das Feld aller möglichen | ||||||
| 36 | Erfahrungen hinaus sich erweiternde Einsichten anmaßen, weder | ||||||
| 37 | in dem Falle, daß ihre abstracte Synthesis in irgend einer Anschauung | ||||||
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