Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 211 |
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01 | wegnehme, so bleibt gar keine Erkenntniß irgend eines Gegenstandes | ||||||
02 | übrig; denn durch bloße Anschauung wird gar nichts gedacht, und | ||||||
03 | daß diese Affection der Sinnlichkeit in mir ist, macht gar keine Beziehung | ||||||
04 | von dergleichen Vorstellung auf irgend ein Object aus. Lasse ich aber hingegen | ||||||
05 | alle Anschauung weg, so bleibt doch noch die Form des Denkens, | ||||||
06 | d. i. die Art, dem Mannigfaltigen einer möglichen Anschauung einen | ||||||
07 | Gegenstand zu bestimmen. Daher erstrecken sich die Kategorien so fern | ||||||
08 | weiter, als die sinnliche Anschauung, weil sie Objecte überhaupt denken, | ||||||
09 | ohne noch auf die besondere Art (der Sinnlichkeit) zu sehen, in der sie gegeben | ||||||
10 | werden mögen. Sie bestimmen aber dadurch nicht eine größere | ||||||
11 | Sphäre von Gegenständen, weil, daß solche gegeben werden können, man | ||||||
12 | nicht annehmen kann, ohne daß man eine andere als sinnliche Art der Anschauung | ||||||
13 | als möglich voraussetzt, wozu wir aber keinesweges berechtigt | ||||||
14 | sind. | ||||||
15 | Ich nenne einen Begriff problematisch, der keinen Widerspruch enthält, | ||||||
16 | der auch als eine Begrenzung gegebener Begriffe mit andern Erkenntnissen | ||||||
17 | zusammenhängt, dessen objective Realität aber auf keine Weise | ||||||
18 | erkannt werden kann. Der Begriff eines Noumenon, d. i. eines Dinges, | ||||||
19 | welches gar nicht als Gegenstand der Sinne, sondern als ein Ding an sich | ||||||
20 | selbst (lediglich durch einen reinen Verstand) gedacht werden soll, ist gar | ||||||
21 | nicht widersprechend; denn man kann von der Sinnlichkeit doch nicht behaupten, | ||||||
22 | daß sie die einzige mögliche Art der Anschauung sei. Ferner ist | ||||||
23 | dieser Begriff nothwendig, um die sinnliche Anschauung nicht bis über die | ||||||
24 | Dinge an sich selbst auszudehnen und also um die objective Gültigkeit der | ||||||
25 | sinnlichen Erkenntniß einzuschränken (denn die übrigen, worauf jene nicht | ||||||
26 | reicht, heißen eben darum Noumena, damit man dadurch anzeige, jene Erkenntnisse | ||||||
27 | können ihr Gebiet nicht über alles, was der Verstand denkt, erstrecken). | ||||||
28 | Am Ende aber ist doch die Möglichkeit solcher Noumenorum gar | ||||||
29 | nicht einzusehen, und der Umfang außer der Sphäre der Erscheinungen ist | ||||||
30 | (für uns) leer, d. i. wir haben einen Verstand, der sich problematisch | ||||||
31 | weiter erstreckt als jene, aber keine Anschauung, ja auch nicht einmal den | ||||||
32 | Begriff von einer möglichen Anschauung, wodurch uns außer dem Felde | ||||||
33 | der Sinnlichkeit Gegenstände gegeben und der Verstand über dieselbe hinaus | ||||||
34 | assertorisch gebraucht werden könne. Der Begriff eines Noumenon | ||||||
35 | ist also bloß ein Grenzbegriff, um die Anmaßung der Sinnlichkeit einzuschränken, | ||||||
36 | und also nur von negativem Gebrauche. Er ist aber gleichwohl | ||||||
37 | nicht willkürlich erdichtet, sondern hängt mit der Einschränkung der | ||||||
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