Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 132

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 ihm in dieser Absicht vorschreiben möchte, ist in Ermangelung einer solchen      
  02 Naturgabe vor Mißbrauch sicher.*) Ein Arzt daher, ein Richter oder ein      
  03 Staatskundiger kann viel schöne pathologische, juristische oder politische      
  04 Regeln im Kopfe haben in dem Grade, daß er selbst darin ein gründlicher      
  05 Lehrer werden kann, und wird dennoch in der Anwendung derselben leicht      
  06 verstoßen, entweder, weil es ihm an natürlicher Urtheilskraft (obgleich      
  07 nicht am Verstande) mangelt, und er zwar das Allgemeine in abstracto      
  08 einsehen, aber ob ein Fall in concreto darunter gehöre, nicht unterscheiden      
  09 kann, oder auch darum, weil er nicht genug durch Beispiele und wirkliche      
  10 Geschäfte zu diesem Urtheile abgerichtet worden. Dieses ist auch der einige      
  11 und große Nutzen der Beispiele: daß sie die Urtheilskraft schärfen. Denn      
  12 was die Richtigkeit und Präcision der Verstandeseinsicht betrifft, so thun      
  13 sie derselben vielmehr gemeiniglich einigen Abbruch, weil sie nur selten      
  14 die Bedingung der Regel adäquat erfüllen (als casus in terminis ) und      
  15 überdem diejenige Anstrengung des Verstandes oftmals schwächen, Regeln      
  16 im Allgemeinen und unabhängig von den besonderen Umständen der Erfahrung      
  17 nach ihrer Zulänglichkeit einzusehen, und sie daher zuletzt mehr      
  18 wie Formeln als Grundsätze zu gebrauchen angewöhnen. So sind Beispiele      
  19 der Gängelwagen der Urtheilskraft, welchen derjenige, dem es am      
  20 natürlichen Talent derselben mangelt, niemals entbehren kann.      
           
  21 Ob nun aber gleich die allgemeine Logik der Urtheilskraft keine      
  22 Vorschriften geben kann, so ist es doch mit der transscendentalen ganz      
  23 anders bewandt, so gar daß es scheint, die letztere habe es zu ihrem eigentlichen      
  24 Geschäfte, die Urtheilskraft im Gebrauch des reinen Verstandes      
  25 durch bestimmte Regeln zu berichtigen und zu sichern. Denn um dem      
  26 Verstande im Felde reiner Erkenntnisse a priori Erweiterung zu verschaffen,      
  27 mithin als Doctrin, scheint Philosophie gar nicht nöthig, oder      
  28 vielmehr übel angebracht zu sein, weil man nach allen bisherigen Versuchen      
  29 damit doch wenig oder gar kein Land gewonnen hat, sondern als      
           
    *) Der Mangel an Urtheilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen. Ein stumpfer oder eingeschränkter Kopf, dem es an nichts, als an gehörigem Grade des Verstandes und eigenen Begriffen desselben mangelt, ist durch Erlernung sehr wohl, sogar bis zur Gelehrsamkeit auszurüsten. Da es aber gemeiniglich alsdann auch an jener (der secunda Petri ) zu fehlen pflegt, so ist es nichts Ungewöhnliches, sehr gelehrte Männer anzutreffen, die im Gebrauche ihrer Wissenschaft jenen nie zu bessernden Mangel häufig blicken lassen.      
           
     

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