Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 032

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 vermieden werden, wenn man seine Erdichtungen nur behutsam macht,      
  02 ohne daß sie deswegen weniger Erdichtungen bleiben. Die Mathematik      
  03 giebt uns ein glänzendes Beispiel, wie weit wir es unabhängig von der      
  04 Erfahrung in der Erkenntniß a priori bringen können. Nun beschäftigt      
  05 sie sich zwar mit Gegenständen und Erkenntnissen bloß so weit, als sich      
  06 solche in der Anschauung darstellen lassen. Aber dieser Umstand wird      
  07 leicht übersehen, weil gedachte Anschauung selbst a priori gegeben werden      
  08 kann, mithin von einem bloßen reinen Begriff kaum unterschieden wird.      
  09 Durch einen solchen Beweis von der Macht der Vernunft eingenommen,      
  10 sieht der Trieb zur Erweiterung keine Grenzen. Die leichte Taube, indem      
  11 sie im freien Fluge die Luft theilt, deren Widerstand sie fühlt, könnte die      
  12 Vorstellung fassen, daß es ihr im luftleeren Raum noch viel besser gelingen      
  13 werde. Eben so verließ Plato die Sinnenwelt, weil sie dem      
  14 Verstande so enge Schranken setzt, und wagte sich jenseit derselben auf      
  15 den Flügeln der Ideen in den leeren Raum des reinen Verstandes. Er      
  16 bemerkte nicht, daß er durch seine Bemühungen keinen Weg gewönne,      
  17 denn er hatte keinen Widerhalt gleichsam zur Unterlage, worauf er sich      
  18 steifen und woran er seine Kräfte anwenden konnte, um den Verstand von      
  19 der Stelle zu bringen. Es ist aber ein gewöhnliches Schicksal der menschlichen      
  20 Vernunft in der Speculation, ihr Gebäude so früh wie möglich      
  21 fertig zu machen und hintennach allererst zu untersuchen, ob auch der      
  22 Grund dazu gut gelegt sei. Alsdann aber werden allerlei Beschönigungen      
  23 herbeigesucht, um uns wegen dessen Tüchtigkeit zu trösten, oder auch      
  24 eine solche späte und gefährliche Prüfung lieber gar abzuweisen. Was      
  25 uns aber während dem Bauen von aller Besorgniß und Verdacht frei      
  26 hält und mit scheinbarer Gründlichkeit schmeichelt, ist dieses. Ein großer      
  27 Theil und vielleicht der größte von dem Geschäfte unserer Vernunft besteht      
  28 in Zergliederungen der Begriffe, die wir schon von Gegenständen      
  29 haben. Dieses liefert uns eine Menge von Erkenntnissen, die, ob sie      
  30 gleich nichts weiter als Aufklärungen oder Erläuterungen desjenigen sind,      
  31 was in unsern Begriffen (wiewohl noch auf verworrene Art) schon gedacht      
  32 worden, doch wenigstens der Form nach neuen Einsichten gleich geschätzt      
           
     

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