Kant: AA II, Träume eines Geistersehers, ... , Seite 335 |
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| 01 | wohin die Richtungslinien unserer Triebe zusammenlaufen, ist also nicht | ||||||
| 02 | bloß in uns, sondern es sind noch Kräfte, die uns bewegen, in dem Wollen | ||||||
| 03 | anderer außer uns. Daher entspringen die sittlichen Antriebe, die uns oft | ||||||
| 04 | wider den Dank des Eigennutzes fortreißen, das starke Gesetz der Schuldigkeit | ||||||
| 05 | und das schwächere der Gütigkeit, deren jedes uns manche Aufopferung | ||||||
| 06 | abdringt, und obgleich beide dann und wann durch eigennützige | ||||||
| 07 | Neigungen überwogen werden, doch nirgend in der menschlichen Natur | ||||||
| 08 | ermangeln, ihre Wirklichkeit zu äussern. Dadurch sehen wir uns in | ||||||
| 09 | den geheimsten Beweggründen abhängig von der Regel des allgemeinen | ||||||
| 10 | Willens, und es entspringt daraus in der Welt aller denkenden | ||||||
| 11 | Naturen eine moralische Einheit und systematische Verfassung nach | ||||||
| 12 | bloß geistigen Gesetzen. Will man diese in uns empfundene Nöthigung | ||||||
| 13 | unseres Willens zur Einstimmung mit dem allgemeinen Willen das sittliche | ||||||
| 14 | Gefühl nennen, so redet man davon nur als von einer Erscheinung | ||||||
| 15 | dessen, was in uns wirklich vorgeht, ohne die Ursachen desselben auszumachen. | ||||||
| 16 | So nannte Newton das sichere Gesetz der Bestrebungen aller | ||||||
| 17 | Materie sich einander zu nähern die Gravitation derselben, indem er | ||||||
| 18 | seine mathematische Demonstrationen nicht in eine verdrießliche Theilnehmung | ||||||
| 19 | an philosophischen Streitigkeiten verflechten wollte, die sich über | ||||||
| 20 | die Ursache derselben eräugnen könnten. Gleichwohl trug er kein Bedenken | ||||||
| 21 | diese Gravitation als eine wahre Wirkung einer allgemeinen Thätigkeit | ||||||
| 22 | der Materie ineinander zu behandeln und gab ihr daher auch den | ||||||
| 23 | Namen der Anziehung. Sollte es nicht möglich sein die Erscheinung | ||||||
| 24 | der sittlichen Antriebe in den denkenden Naturen, wie solche sich auf einander | ||||||
| 25 | wechselsweise beziehen, gleichfalls als die Folge einer wahrhaftig | ||||||
| 26 | thätigen Kraft, dadurch geistige Naturen ineinander einfließen, vorzustellen, | ||||||
| 27 | so daß das sittliche Gefühl diese empfundene Abhängigkeit | ||||||
| 28 | des Privatwillens vom allgemeinen Willen wäre und eine Folge der natürlichen | ||||||
| 29 | und allgemeinen Wechselwirkung, dadurch die immaterielle Welt | ||||||
| 30 | ihre sittliche Einheit erlangt, indem sie sich nach den Gesetzen dieses ihr | ||||||
| 31 | eigenen Zusammenhanges zu einem System von geistiger Vollkommenheit | ||||||
| 32 | bildet? Wenn man diesen Gedanken so viel Scheinbarkeit zugesteht, als | ||||||
| 33 | erforderlich ist, um die Mühe zu verdienen sie an ihren Folgen zu messen, | ||||||
| 34 | so wird man vielleicht durch den Reiz derselben unvermerkt in einige Parteilichkeit | ||||||
| 35 | gegen sie verflochten werden. Denn es scheinen in diesem Falle | ||||||
| 36 | die Unregelmäßigkeiten mehrentheils zu verschwinden, die sonst bei dem | ||||||
| 37 | Widerspruch der moralischen und physischen Verhältnisse der Menschen | ||||||
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