Kant: AA II, Beobachtungen über das ... , Seite 255 |
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01 | in Überlegung gezogen zu werden, allein kurzum, dieser Kerl war | ||||||
02 | vom Kopf bis auf die Füße ganz schwarz, ein deutlicher Beweis, daß das, | ||||||
03 | was er sagte, dumm war. Unter allen Wilden sind keine, bei denen das | ||||||
04 | weibliche Geschlecht in größerem wirklichen Ansehen stände, als die von | ||||||
05 | Canada. Vielleicht übertreffen sie darin sogar unseren gesitteten Welttheil. | ||||||
06 | Nicht als wenn man den Frauen daselbst demüthige Aufwartungen machte; | ||||||
07 | das sind nur Complimente. Nein sie haben wirklich zu befehlen. Sie versammlen | ||||||
08 | sich und berathschlagen über die wichtigste Anordnungen der | ||||||
09 | Nation, über Krieg und Frieden. Sie schicken darauf ihre Abgeordnete | ||||||
10 | an den männlichen Rath, und gemeiniglich ist ihre Stimme diejenige, | ||||||
11 | welche entscheidet. Aber sie erkaufen diesen Vorzug theuer genug. Sie | ||||||
12 | haben alle häußliche Angelegenheiten auf dem Halse und nehmen an allen | ||||||
13 | Beschwerlichkeiten der Männer mit Antheil. | ||||||
14 | Wenn wir zuletzt noch einige Blicke auf die Geschichte werfen, so | ||||||
15 | sehen wir den Geschmack der Menschen wie einen Proteus stets wandelbare | ||||||
16 | Gestalten annehmen. Die alten Zeiten der Griechen und Römer | ||||||
17 | zeigten deutliche Merkmale eines ächten Gefühls für das Schöne sowohl | ||||||
18 | als das Erhabene in der Dichtkunst, der Bildhauerkunst, der Architektur, | ||||||
19 | der Gesetzgebung und selbst in den Sitten. Die Regierung der römischen | ||||||
20 | Kaiser veränderte die edle sowohl als die schöne Einfalt in das Prächtige | ||||||
21 | und dann in den falschen Schimmer, wovon uns noch die Überbleibsel | ||||||
22 | ihrer Beredsamkeit, Dichtkunst und selbst die Geschichte ihrer Sitten belehren | ||||||
23 | können. Allmählig erlosch auch dieser Rest des feinern Geschmacks | ||||||
24 | mit dem gänzlichen Verfall des Staats. Die Barbaren, nachdem sie | ||||||
25 | ihrerseits ihre Macht befestigten, führten einen gewissen verkehrten Geschmack | ||||||
26 | ein, den man den gothischen nennt, und der auf Fratzen auslief. | ||||||
27 | Man sah nicht allein Fratzen in der Baukunst, sondern auch in den Wissenschaften | ||||||
28 | und den übrigen gebräuchen. Das verunartete Gefühl, da es | ||||||
29 | einmal durch falsche Kunst geführt ward, nahm eher eine jede andere natürliche | ||||||
30 | Gestalt, als die alte Einfalt der Natur an und war entweder beim | ||||||
31 | Übertriebenen, oder beim Läppischen. Der höchste Schwung, den das | ||||||
32 | menschliche Genie nahm, um zu dem Erhabenen aufzusteigen, bestand in | ||||||
33 | Abenteuern. Man sah geistliche und weltliche Abenteurer und oftmals eine | ||||||
34 | widrige und ungeheure Bastardart von beiden. Mönche mit dem Meßbuch | ||||||
35 | in einer und der Kriegesfahne in der andern Hand, denen ganze | ||||||
36 | Heere betrogener Schlachtopfer folgten, um in andern Himmelsgegenden | ||||||
37 | und in einem heiligeren Boden ihre Gebeine verscharren zu lassen, eingeweihte | ||||||
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