Kant: AA II, Beobachtungen über das ... , Seite 230 |
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01 | Chastelet, mag nur immerhin noch einen Bart dazu haben; denn dieser | ||||||
02 | würde vielleicht die Miene des Tiefsinns noch kenntlicher ausdrücken, um | ||||||
03 | welchen sie sich bewerben. Der schöne Verstand wählt zu seinen Gegenständen | ||||||
04 | alles, was mit dem feineren Gefühl nahe verwandt ist, und überläßt | ||||||
05 | abstracte Speculationen oder Kenntnisse, die nützlich, aber trocken | ||||||
06 | sind, dem emsigen, gründlichen und tiefen Verstande. Das Frauenzimmer | ||||||
07 | wird demnach keine Geometrie lernen; es wird vom Satze des zureichenden | ||||||
08 | Grundes, oder den Monaden nur so viel wissen, als da nöthig ist, um | ||||||
09 | das Salz in den Spottgedichten zu vernehmen, welche die seichte Grübler | ||||||
10 | unseres Geschlechts durchgezogen haben. Die Schönen können den Cartesius | ||||||
11 | seine Wirbel immer drehen lassen, ohne sich darum zu bekümmern, wenn | ||||||
12 | auch der artige Fontenelle ihnen unter den Wandelsternen Gesellschaft | ||||||
13 | leisten wollte, und die Anziehung ihrer Reize verliert nichts von ihrer Gewalt, | ||||||
14 | wenn sie gleich nichts von allem dem wissen, was Algarotti zu | ||||||
15 | ihrem Besten von den Anziehungskräften der groben Materien nach dem | ||||||
16 | Newton aufzuzeichnen bemüht gewesen. Sie werden in der Geschichte sich | ||||||
17 | nicht den Kopf mit Schlachten und in der Erdbeschreibung nicht mit | ||||||
18 | Festungen anfüllen; denn es schickt sich für sie eben so wenig, daß sie nach | ||||||
19 | Schießpulver, als für die Mannspersonen, daß sie nach Bisam riechen | ||||||
20 | sollen. | ||||||
21 | Es scheint eine boshafte List der Mannspersonen zu sein, daß sie das | ||||||
22 | schöne Geschlecht zu diesem verkehrten Geschmacke haben verleiten wollen. | ||||||
23 | Denn wohl bewußt ihrer Schwäche in Ansehung der natürlichen Reize | ||||||
24 | desselben, und daß ein einziger schalkhafter Blick sie mehr in Verwirrung | ||||||
25 | setze als die schwerste Schulfrage, sehen sie sich, so bald das Frauenzimmer | ||||||
26 | in diesen Geschmack einschlägt, in einer entschiedenen Überlegenheit und | ||||||
27 | sind in dem Vortheile, den sie sonst schwerlich haben würden, mit einer | ||||||
28 | großmüthigen Nachsicht den Schwächen ihrer Eitelkeit aufzuhelfen. Der | ||||||
29 | Inhalt der großen Wissenschaft des Frauenzimmers ist vielmehr der Mensch | ||||||
30 | und unter den Menschen der Mann. Ihre Weltweisheit ist nicht Vernünfteln, | ||||||
31 | sondern Empfinden. Bei der Gelegenheit, die man ihnen geben will | ||||||
32 | ihre schöne Natur auszubilden, muß man dieses Verhältniß jederzeit vor | ||||||
33 | Augen haben. Man wird ihr gesammtes moralisches Gefühl und nicht | ||||||
34 | ihr Gedächtniß zu erweitern suchen und zwar nicht durch allgemeine Regeln, | ||||||
35 | sondern durch einiges Urtheil über das Betragen, welches sie um sich sehen. | ||||||
36 | Die Beispiele, die man aus andern Zeiten entlehnt, um den Einfluß einzusehen, | ||||||
37 | den das schöne Geschlecht in die Weltgeschäfte gehabt hat, die mancherlei | ||||||
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