Kant: AA II, Beobachtungen über das ... , Seite 219

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 stehe, doch so, daß über dieses ein größerer Mangel des moralischen      
  02 Gefühls dem phlegmatischen zum Antheil werden würde. Nicht als wenn      
  03 das Hauptmerkmal in dem Charakter dieser verschiedenen Gemüthsarten      
  04 auf die gedachte Züge ankäme; denn das gröbere Gefühl, z. E. des Eigennutzes,      
  05 der gemeinen Wollust etc. etc., erwägen wir in dieser Abhandlung      
  06 gar nicht, und auf dergleichen Neigungen wird bei der gewöhnlichen Eintheilung      
  07 gleichwohl vorzüglich gesehen; sondern weil die erwähnte feinere      
  08 moralische Empfindungen sich leichter mit einem oder dem andern dieser      
  09 Temperamente vereinbaren lassen und wirklich meistentheils damit vereinigt      
  10 sind.      
           
  11 Ein innigliches Gefühl für die Schönheit und Würde der menschlichen      
  12 Natur und eine Fassung und Stärke des Gemüths, hierauf als auf einen      
  13 allgemeinen Grund seine gesammte Handlungen zu beziehen, ist ernsthaft      
  14 und gesellt sich nicht wohl mit einer flatterhaften Lustigkeit, noch mit dem      
  15 Unbestand eines Leichtsinnigen. Es nähert sich sogar der Schwermuth,      
  16 einer sanften und edlen Empfindung, in so fern sie sich auf dasjenige      
  17 Grausen gründet, das eine eingeschränkte Seele fühlt, wenn sie, von einem      
  18 großen Vorsatze voll, die Gefahren sieht, die sie zu überstehen hat, und den      
  19 schweren, aber großen Sieg der Selbstüberwindung vor Augen hat. Die      
  20 ächte Tugend also aus Grundsätzen hat etwas an sich, was am meisten      
  21 mit der melancholischen Gemüthsverfassung im gemilderten Verstande      
  22 zusammenzustimmen scheint.      
           
  23 Die Gutherzigkeit, eine Schönheit und feine Reizbarkeit des Herzens,      
  24 nach dem Anlaß, der sich vorfindet, in einzelnen Fällen mit Mitleiden      
  25 oder Wohlwollen gerührt zu werden, ist dem Wechsel der Umstände sehr      
  26 unterworfen, und indem die Bewegung der Seele nicht auf einem allgemeinen      
  27 Grundsatze beruht, so nimmt sie leichtlich veränderte Gestalten an,      
  28 nachdem die Gegenstände eine oder die andere Seite darbieten. Und da      
  29 diese Neigung auf das Schöne hinausläuft, so scheint sie sich mit derjenigen      
  30 Gemüthsart, die man sanguinisch nennt, welche flatterhaft und den Belustigungen      
  31 ergeben ist, am natürlichsten zu vereinbaren. In diesem Temperamente      
  32 werden wir die beliebte Eigenschaften, die wir adoptirte Tugenden      
  33 nannten, zu suchen haben.      
           
  34 Das Gefühl für die Ehre ist sonst schon gewöhnlich als ein Merkmal      
  35 der cholerischen Complexion angenommen worden, und wir können dadurch      
  36 Anlaß nehmen die moralische Folgen dieses feinen Gefühls, welche      
           
     

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