Kant: AA II, Beobachtungen über das ... , Seite 212 |
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01 | tiefe Hochachtung der letzteren eine gewisse Würde und Erhabenheit, dagegen | ||||||
02 | gaukelhafter Scherz und Vertraulichkeit das Colorit des Schönen | ||||||
03 | in dieser Empfindung erhöhen. Das Trauerspiel unterscheidet sich meiner | ||||||
04 | Meinung nach vom Lustspiele vornehmlich darin: daß in dem ersteren | ||||||
05 | das Gefühl fürs Erhabene, im zweiten für das Schöne gerührt | ||||||
06 | wird. In dem ersteren zeigen sich großmüthige Aufopferung für fremdes | ||||||
07 | Wohl, kühne Entschlossenheit in Gefahren und geprüfte Treue. Die Liebe | ||||||
08 | ist daselbst schwermüthig, zärtlich und voll Hochachtung; das Unglück anderer | ||||||
09 | bewegt in dem Busen des Zuschauers theilnehmende Empfindungen | ||||||
10 | und läßt sein großmüthig Herz für fremde Noth klopfen. Er wird sanft | ||||||
11 | gerührt und fühlt die Würde seiner eigenen Natur. Dagegen stellt das | ||||||
12 | Lustspiel feine Ränke, wunderliche Verwirrungen und Witzige, die sich | ||||||
13 | herauszuziehen wissen, Narren, die sich betrügen lassen, Spaße und lächerliche | ||||||
14 | Charaktere vor. Die Liebe ist hier nicht so grämisch, sie ist lustig und | ||||||
15 | vertraulich. Doch können so wie in andern Fällen, also auch in diesen das | ||||||
16 | Edle mit dem Schönen in gewissem Grade vereinbart werden. | ||||||
17 | Selbst die Laster und moralische Gebrechen führen öfters gleichwohl | ||||||
18 | einige Züge des Erhabenen oder Schönen bei sich; wenigstens so wie sie | ||||||
19 | unserem sinnlichen Gefühl erscheinen, ohne durch Vernunft geprüft zu | ||||||
20 | sein. Der Zorn eines Furchtbaren ist erhaben, wie Achilles' Zorn in der | ||||||
21 | Iliade. Überhaupt ist der Held des Homers schrecklich erhaben, des | ||||||
22 | Virgils seiner dagegen edel. Offenbare dreiste Rache nach großer Beleidigung | ||||||
23 | hat etwas Großes an sich, und so unerlaubt sie auch sein mag, | ||||||
24 | so rührt sie in der Erzählung gleichwohl mit Grausen und Wohlgefallen. | ||||||
25 | Als Schach Nadir zur Nachtzeit von einigen Verschwornen in seinem Zelte | ||||||
26 | überfallen ward, so rief er, wie Hanway erzählt, nachdem er schon einige | ||||||
27 | Wunden bekommen und sich voll Verzweifelung wehrte: Erbarmung! | ||||||
28 | ich will euch allen vergeben. Einer unter ihnen antwortete, indem er | ||||||
29 | den Säbel in die Höhe hob: Du hast keine Erbarmung bewiesen | ||||||
30 | und Verdienst auch keine. Entschlossene Verwegenheit an einem Schelmen | ||||||
31 | ist höchst gefährlich, aber sie rührt doch in der Erzählung, und selbst | ||||||
32 | wenn er zu einem schändlichen Tode geschleppt wird, so veredelt er ihn | ||||||
33 | noch gewissermaßen dadurch, daß er ihm trotzig und mit Verachtung entgegen | ||||||
34 | geht. Von der andern Seite hat ein listig ausgedachter Entwurf, | ||||||
35 | wenn er gleich auf ein Bubenstück ausgeht, etwas an sich, was fein ist | ||||||
36 | und belacht wird. Buhlerische Neigung (Coquetterie) im feinen Verstande, | ||||||
37 | nämlich eine Geflissenheit einzunehmen und zu reizen, an einer sonst artigen | ||||||
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