Kant: AA II, Der einzig mögliche ... , Seite 129 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | vorgegangen sei. Der Amazonenstrom zeigt in einer Strecke von einigen | ||||||
02 | hundert Meilen deutliche Spuren, daß er ehedem kein eingeschränktes | ||||||
03 | Fluthbette gehabt, sondern weit und breit das Land überschwemmt haben | ||||||
04 | müsse; denn das Erdreich zu beiden Seiten ist bis in große Weiten flach | ||||||
05 | wie ein See und besteht aus Flußschlamm, wo ein Kiesel eben so selten | ||||||
06 | ist wie ein Demant. Eben dasselbe findet man beim Mississippi. Und überhaupt | ||||||
07 | zeigen der Nil und andere Ströme, daß diese Kanäle mit der Zeit | ||||||
08 | viel weiter verlängert worden, und da wo der Strom seinen Ausfluß zu | ||||||
09 | haben schien, weil er sich nahe zur See über den flachen Boden ausbreitete, | ||||||
10 | bauet er allmählich seine Laufrinne aus und fließt weiter in einem verlängerten | ||||||
11 | Fluthbette. Alsdann aber, nachdem ich durch Erfahrungen auf | ||||||
12 | die Spur gebracht worden, glaube ich die ganze Mechanik von der Bildung | ||||||
13 | der Fluthrinnen aller Ströme auf folgende einfältige Gründe bringen zu | ||||||
14 | können. Das von den Höhen laufende Quell= oder Regenwasser ergoß sich | ||||||
15 | anfänglich nach dem Abhang des Bodens unregelmäßig, füllte manche | ||||||
16 | Thäler an und breitete sich über manche flache Gegenden aus. Allein in | ||||||
17 | demjenigen Striche, wo irgend der Zug des Wassers am schnellsten war, | ||||||
18 | konnte es der Geschwindigkeit wegen seinen Schlamm nicht so wohl absetzen, | ||||||
19 | den es hergegen zu beiden Seiten viel häufiger fallen ließ. Dadurch | ||||||
20 | wurden die Ufer erhöht, indessen daß der stärkste Zug des Wassers seine | ||||||
21 | Rinne erhielt. Mit der Zeit, als der Zufluß des Wassers selber geringer | ||||||
22 | wurde (welches in der Folge der Zeit endlich geschehen mußte aus Ursachen, | ||||||
23 | die den Kennern der Geschichte der Erde bekannt sind), so überschritt | ||||||
24 | der Strom diejenige Ufer nicht mehr, die er sich selbst aufgeführt | ||||||
25 | hatte, und aus der wilden Unordnung entsprang Regelmäßigkeit und | ||||||
26 | Ordnung. Man sieht offenbar, daß dieses noch bis auf diese Zeit, vornehmlich | ||||||
27 | bei den Mündungen der Ströme, die ihre jüngsten Theile sind, | ||||||
28 | vorgeht, und gleichwie nach diesem Plane das Absetzen des Schlammes | ||||||
29 | nahe bei den Stellen, wo der Strom anfangs seine neue Ufer überschritt, | ||||||
30 | häufiger als weiter davon geschehen mußte, so wird man auch noch gewahr, | ||||||
31 | daß wirklich an vielen Orten, wo ein Strom durch flache Gegenden läuft, | ||||||
32 | sein Rinnsal höher liegt als die umliegende Ebenen. | ||||||
33 | Es giebt gewisse allgemeine Regeln, nach denen die Wirkungen der | ||||||
34 | Natur geschehen, und die einiges Licht in der Beziehung der mechanischen | ||||||
35 | Gesetze auf Ordnung und Wohlgereimtheit geben können, deren eine ist: | ||||||
36 | die Kräfte der Bewegung und des Widerstandes wirken so lange auf einander, | ||||||
37 | bis sie sich die mindeste Hinderniß leisten. Die Gründe dieses Gesetzes | ||||||
[ Seite 128 ] [ Seite 130 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |