Kant: AA II, Der einzig mögliche ... , Seite 118

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 selbst nicht mathematisch, sondern moralisch ist, so bemächtigen sich      
  02 doch so viel Beweisthümer, jeder von so großem Eindruck, seiner Seele,      
  03 und die Speculation folgt ruhig mit einem gewissen Zutrauen einer Überzeugung,      
  04 die schon Platz genommen hat. Schwerlich würde wohl jemand      
  05 seine ganze Glückseligkeit auf die angemaßte Richtigkeit eines metaphysischen      
  06 Beweises wagen, vornehmlich wenn ihm lebhafte sinnliche Überredungen      
  07 entgegen ständen. Allein die Gewalt der Überzeugung, die hieraus      
  08 erwächst, darum eben weil sie so sinnlich ist, ist auch so gesetzt und      
  09 unerschütterlich, daß sie keine Gefahr von Schlußreden und Unterscheidungen      
  10 besorgt und sich weit über die Macht spitzfündiger Einwürfe wegsetzt.      
  11 Gleichwohl hat diese Methode ihre Fehler, die beträchtlich genug sind, ob      
  12 sie zwar eigentlich nur dem Verfahren derjenigen zuzurechnen sind, die      
  13 sich ihrer bedient haben.      
           
  14 1. Sie betrachtet alle Vollkommenheit, Harmonie und Schönheit der      
  15 Natur als zufällig und als eine Anordnung durch Weisheit, da doch viele      
  16 derselben mit nothwendiger Einheit aus den wesentlichsten Regeln der      
  17 Natur abfließen. Das, was der Absicht der Physikotheologie hiebei am      
  18 schädlichsten ist, besteht darin, daß sie diese Zufälligkeit der Naturvollkommenheit      
  19 als höchstnöthig zum Beweise eines weisen Urhebers ansieht,      
  20 daher alle nothwendige Wohlgereimtheiten der Dinge der Welt bei dieser      
  21 Voraussetzung gefährliche Einwürfe werden.      
           
  22 Um sich von diesem Fehler zu überzeugen, merke man auf nachstehendes.      
  23 Man sieht, wie die Verfasser nach dieser Methode gefließen sind, die      
  24 an unzähligen Endabsichten reiche Producte des Pflanzen= und Thierreichs      
  25 nicht allein der Macht des Ungefährs, sondern auch der mechanischen Nothwendigkeit      
  26 nach allgemeinen Gesetzen der materialen Natur zu entreißen.      
  27 Und hierin kann es ihnen auch nicht im mindesten schwer werden. Das      
  28 Übergewicht der Gründe auf ihrer Seite ist gar zu sehr entschieden. Allein      
  29 wenn sie sich von der organischen Natur zur unorganischen wenden, so beharren      
  30 sie noch immer auf eben derselben Methode, allein sie finden sich      
  31 daselbst fast jederzeit durch die veränderte Natur der Sachen in Schwierigkeiten      
  32 befangen, denen sie nicht ausweichen können. Sie reden noch      
  33 immer von der durch große Weisheit getroffenen Vereinbarung so vieler      
  34 nützlichen Eigenschaften des Luftkreises, den Wolken, dem Regen, den      
  35 Winden, der Dämmerung etc. etc., als wenn die Eigenschaft, wodurch die      
  36 Luft zu Erzeugung der Winde auferlegt ist, mit derjenigen, wodurch sie      
  37 Dünste aufzieht, oder wodurch sie in großen Höhen dünner wird, eben so      
           
     

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