Kant: AA II, Der einzig mögliche ... , Seite 068

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 zwei strittigen Theilen die Gründe so abwiegt, daß er sich in Gedanken in      
  02 die Stelle derer, die sie vorbringen, selbst versetzt, um sie so stark zu finden,      
  03 als sie nur immer werden können, und dann allererst auszumachen, welchem      
  04 Theile er sich widmen wolle, so würde viel weniger Uneinigkeit in den      
  05 Meinungen der Philosophen sein, und eine ungheuchelte Billigkeit, sich      
  06 selbst der Sache des Gegentheils in dem Grade anzunehmen, als es möglich      
  07 ist, würde bald die forschende Köpfe auf einem Wege vereinigen.      
           
  08 In einer schweren Betrachtung, wie die gegenwärtige ist, kann ich      
  09 mich wohl zum voraus darauf gefaßt machen, daß mancher Satz unrichtig,      
  10 manche Erläuterung unzulänglich und manche Ausführung gebrechlich      
  11 und mangelhaft sein werde. Ich mache keine solche Forderung auf eine      
  12 unbeschränkte Unterzeichnung des Lesers, die ich selbst schwerlich einem      
  13 Verfasser bewilligen würde. Es wird mir daher nicht fremd sein von andern      
  14 in manchen Stücken eines bessern belehrt zu werden, auch wird man mich      
  15 gelehrig finden, solchen Unterricht anzunehmen. Es ist schwer dem Anspruche      
  16 auf Richtigkeit zu entsagen, den man im Anfange zuversichtlich      
  17 äußerte, als man Gründe vortrug, allein es ist nicht eben so schwer, wenn      
  18 dieser Anspruch gelinde, unsicher und bescheiden war. Selbst die feinste      
  19 Eitelkeit, wenn sie sich wohl versteht, wird bemerken, daß nicht weniger      
  20 Verdienst dazu gehört sich überzeugen zu lassen als selbst zu überzeugen,      
  21 und daß jene Handlung vielleicht mehr wahre Ehre macht, in so fern mehr      
  22 Entsagung und Selbstprüfung dazu als zu der andern erfordert wird. Es      
  23 könnte scheinen eine Verletzung der Einheit, die man bei der Betrachtung      
  24 seines Gegenstandes vor Augen haben muß, zu sein, daß hin und wieder      
  25 ziemlich ausführliche physische Erläuterungen vorkommen; allein da meine      
  26 Absicht in diesen Fällen vornehmlich auf die Methode, vermittelst der      
  27 Naturwissenschaft zur Erkenntniß Gottes hinaufzusteigen, gerichtet ist, so      
  28 habe ich diesen Zweck ohne dergleichen Beispiele nicht wohl erreichen können.      
  29 Die siebente Betrachtung der zweiten Abtheilung bedarf desfalls etwas      
  30 mehr Nachsicht, vornehmlich da ihr Inhalt aus einem Buche, welches ich      
  31 ehedem ohne Nennung meines Namens herausgab,*) gezogen worden, wo      
           
    *) Der Titel desselben ist: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels. Königsberg und Leipzig 1755. Diese Schrift, die wenig bekannt geworden, muß unter andern auch nicht zur Kenntniß des berühmten Herrn J. H. Lambert gelangt sein, der sechs Jahre hernach in seinen Kosmologischen Briefen 1761 eben dieselbe Theorie von der systematischen Verfassung des Weltbaues im Großen, der Milchstraße, den Nebelsternen u.s.f. vorgetragen hat, die [Seitenumbruch] man in meiner gedachten Theorie des Himmels im ersten Theile, imgleichen in der Vorrede daselbst antrifft, und wovon etwas in einem kurzen Abrisse Seite 154 bis 158 des gegenwärtigen Werks angezeigt wird. Die Übereinstimmung der Gedanken dieses sinnreichen Mannes mit denen, die ich damals vortrug, welche fast bis auf die kleineren Züge untereinander übereinkommen, vergrößert meine Vermuthung: daß dieser Entwurf in der Folge mehrere Bestätigung erhalten werde.      
           
     

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