Kant: AA I, Geschichte und Naturbeschreibung ... , Seite 442

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 aus der Geschichte anderer Erdbeben anführen, allein ich bleibe      
  02 bei meinem Gegenstande. Aus Frankreich hat man uns an einigen Orten      
  03 berichtet, daß Qüllen verstopft worden, und andere übermäßig viel Wasser      
  04 gegeben haben. Der Töplitzer Brunn blieb aus, machte den armen      
  05 Töplitzern bange, kam zürst schlammicht, dann blutroth, zuletzt natürlich      
  06 und stärker als vorher wieder. Die Verfärbung der Wasser in so vielen      
  07 Gegenden, selbst im Königreiche Fez und in Frankreich ist meinem Erachten      
  08 nach der Vermischung der durch die Erdschichten, wo die Qüllen ihren      
  09 Durchgang haben, gedrungenen, mit Schwefel und Eisentheilchen in Gährung      
  10 gerathenen Dämpfe zuzuschreiben. Wenn diese bis in das Inwendige      
  11 der Cisternen dringen, die den Ursprung des Brunnqülls enthalten, so      
  12 treiben sie entweder ihn mit größerer Gewalt heraus, oder indem sie      
  13 das Wasser in andere Gänge pressen, so verändern sie seinen Ausfluß.      
           
  14 Dieses sind die vornehmste Merkwürdigkeiten der Geschichte vom      
  15 1sten Nov. und der Wasserbewegung, die die seltenste von ihren Umständen      
  16 ist. Es ist mir überaus glaublich, daß die Erderschütterungen, die sich      
  17 dicht am Meeresufer, oder eines Wassers, das damit Gemeinschaft hat,      
  18 zugetragen haben, zu Cork in Irland, in Glückstadt und hin und wieder      
  19 in Spanien, größten Theils eben dem Drucke des gepreßten Meerwassers      
  20 zuzuschreiben sind, dessen Gewalt unglaublich groß sein muß, wenn man      
  21 die Heftigkeit, womit es anschlägt, durch die Fläche multiplicirt, worauf      
  22 es trifft, und ich bin der Meinung, das Unglück von Lissabon sei, so wie      
  23 das von den meisten Städten der westlichen Küste Europens der Lage zuzuschreiben,      
  24 die es in Ansehung der beregten Gegend des Oceans gehabt      
  25 hat, da dessen ganze Gewalt noch überdem in der Mündung des Tagus,      
  26 durch die Enge eines Busens verstärkt, den Boden außerordentlich hat      
  27 erschüttern müssen. Man mag urtheilen, ob die Erschütterung lediglich      
  28 in Städten, die am Meeresufer liegen, würde deutlich haben vermerkt      
  29 werden können, die doch in dem Innern des Landes nicht empfindlich      
  30 war, wenn nicht der Druck der Wasser einen Antheil an derselben gehabt      
  31 hätte.      
           
  32 Noch ist die letzte Erscheinung dieser großen Begebenheit merkwürdig,      
  33 da eine geraume Zeit, nämlich beinahe 1 bis 1 1/2 Stunden nach dem Erdbeben,      
  34 eine entsetzliche Aufthürmung der Wasser im Ocean und eine Aufschwellung      
  35 des Tagus, die wechselsweise 6 Fuß höher als die höchste Fluth      
  36 stieg und bald darauf fast so viel niedriger als die niedrigste Ebbe fiel,      
  37 gesehen wurde. Diese Bewegung des Meeres, die eine geraume Zeit nach      
           
     

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