Kant: AA I, Die Frage, ob die Erde veralte, ... , Seite 212 |
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01 | dessen Zähigkeit seine Flüchtigkeit befestigt, und dessen Beraubung entweder | ||||||
02 | durch die Ausdüftung oder chemische Kunstgriffe keinen merklichen | ||||||
03 | Verlust des Gewichts verursacht, obgleich das Zurückgebliebene | ||||||
04 | alsdann nichts als eine todte Masse ist; wenn man diesen Spiritus | ||||||
05 | Rector, wie ihn die Chemici nennen, diese fünfte Essenz, die das specifische | ||||||
06 | Unterscheidungszeichen eines jeden Gewächses ausmacht, erwägt, | ||||||
07 | wie er allenthalben gleich leicht durch einerlei Nahrungsmittel, | ||||||
08 | nämlich durch reines Wasser und Luft, erzeugt werde, wenn man die | ||||||
09 | so berufene flüchtige Säure die allenthalben in der Luft ausgebreitet | ||||||
10 | ist, die das active Principium in den meisten Arten der Salze, das | ||||||
11 | wesentliche Theil des Schwefels und das vornehmste in dem Brennbaren | ||||||
12 | des Feuers ausmacht, deren Anziehungs= und Zurückstoßungskräfte | ||||||
13 | sich bei der Elektricität so deutlich offenbaren, welche so geschickt | ||||||
14 | ist die Federkraft der Luft zu bezwingen und Bildungen zu veranlassen; | ||||||
15 | wenn man diesen Proteus der Natur erwägt: so wird man bewogen | ||||||
16 | eine überall wirksame subtile Materie, einen sogenannten Weltgeist, mit | ||||||
17 | Wahrscheinlichkeit zu vermuthen, aber auch zu besorgen: daß die unaufhörliche | ||||||
18 | Zeugungen vielleicht immer mehr von demselben verzehren, | ||||||
19 | als die Zerstörungen der Naturbildungen zurückliefert, und daß die Natur | ||||||
20 | vielleicht durch den Aufwand derselben beständig etwas von ihrer Kraft | ||||||
21 | einbüße. | ||||||
22 | Wenn ich den Trieb der alten Völker zu großen Dingen, den | ||||||
23 | Enthusiasmus der Ehrbegierde, der Tugend und der Freiheitsliebe, der | ||||||
24 | sie mit hohen Begriffen begeisterte und sie über sich selbst erhob, mit | ||||||
25 | der gemäßigten und kaltsinnigen Beschaffenheit unserer Zeiten vergleiche: | ||||||
26 | so finde ich zwar Ursache unsern Jahrhunderten zu einer solchen Veränderung | ||||||
27 | Glück zu wünschen, welche der Sittenlehre sowohl, als den | ||||||
28 | Wissenschaften gleich einträglich ist, aber ich gerathe doch in Versuchung | ||||||
29 | zu vermuthen: daß vielleicht diese Merkmale einer gewissen Erkaltung | ||||||
30 | desjenigen Feuers seien, welches die menschliche Natur belebte, und | ||||||
31 | dessen Heftigkeit eben so fruchtbar an Ausschweifungen als schönen | ||||||
32 | Wirkungen war. Wenn ich dagegen in Erwägung ziehe, wie großen | ||||||
33 | Einfluß die Regierungsart, die Unterweisung und das Exempel in die | ||||||
34 | Gemüthsverfassung und die Sitten habe, so zweifle ich, ob dergleichen | ||||||
35 | zweideutige Merkmale Beweisthümer einer wirklichen Veränderung der | ||||||
36 | Natur abgeben können. | ||||||
37 | Ich habe demnach die aufgeworfene Frage von dem Veralten der | ||||||
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