Kant: AA I, Die Frage, ob die Erde veralte, ... , Seite 211 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | man an allen Landseen Merkmaale finden: daß sie sich vordem weiter | ||||||
02 | erstreckt haben. Der hohe Theil von Preußen ist ein rechtes Land voll | ||||||
03 | Seen. Man wird nicht leicht einen von denselben sehen, da man nicht | ||||||
04 | neben ihnen große anstoßende Ebenen sollte gewahr werden, die so | ||||||
05 | wassergleich sind, daß man nicht zweifeln kann, sie hätten vordem auch | ||||||
06 | zu dem See gehört und seien nur nach und nach trocken gelassen worden, | ||||||
07 | nachdem dieser sich weiter zurück gezogen, weil sein Gewässer sich | ||||||
08 | allmählig verringert hat. Um ein Beispiel anzuführen: so hat nach sichern | ||||||
09 | Zeugnissen vor Alters der Drausensee bis an die Stadt Preußisch=Holland | ||||||
10 | gereicht und Gelegenheit zur Schiffahrt daselbst gegeben, der | ||||||
11 | anjetzt sich auf eine Meile davon zurückgezogen hat, aber sein vormaliges | ||||||
12 | Bette durch eine lange Ebene, die beinahe wassergleich ist, und deren | ||||||
13 | vormalige erhöhte Ufer zu beiden Seiten gesehen werden, annoch deutlich | ||||||
14 | bezeichnet. Diese allmählige Veränderung ist also so zu reden ein | ||||||
15 | Theil eines fortschreitenden Verhältnisses, dessen letztes Glied fast unendlich | ||||||
16 | weit von dem Anfange absteht und vielleicht niemals erreicht | ||||||
17 | wird, weil die Offenbarung der Erde, die wir bewohnen, ein plötzliches | ||||||
18 | Schicksal vorherverkündigt, dessen Ausführung ihre Dauer mitten im | ||||||
19 | Wohlstande unterbrechen und ihr nicht Zeit lassen soll, durch unmerkliche | ||||||
20 | Stufen der Abänderung zu veralten und so zu reden einen natürlichen | ||||||
21 | Tod zu leiden. | ||||||
22 | Ich bin indessen den verschiedenen Meinungen, die man von dem | ||||||
23 | Veralten der Erde aufwerfen kann, noch die Beurtheilung der vierten | ||||||
24 | schuldig: ob sich nicht die stets wirksame Kraft, welche gewissermaßen | ||||||
25 | das Leben der Natur macht, und die, wiewohl sie nicht sichtbar in die | ||||||
26 | Augen fällt, dennoch bei allen Zeugungen und der Ökonomie aller drei | ||||||
27 | Naturreiche geschäftig ist, nach und nach erschöpfe und dadurch das | ||||||
28 | Veralten der Natur verursache. Diejenige, die in diesem Verstande | ||||||
29 | einen allgemeinen Weltgeist annehmen, verstehen darunter keine unmaterielle | ||||||
30 | Kraft, keine Seele der Welt oder plastische Naturen, die Geschöpfe | ||||||
31 | der kühnen Einbildungskraft, sondern eine subtile, aber überall | ||||||
32 | wirksame Materie, die bei den Bildungen der Natur das active Principium | ||||||
33 | ausmacht und als ein wahrer Proteus bereit ist, alle Gestalten | ||||||
34 | und Formen anzunehmen. Eine solche Vorstellung ist einer gesunden | ||||||
35 | Naturwissenschaft und der Beobachtung nicht so sehr entgegen, als man | ||||||
36 | wohl denken sollte. Wenn man erwägt: daß die Natur in dem Pflanzenreiche | ||||||
37 | den kräftigsten und geistigen Theil in ein gewisses Öl gelegt hat, | ||||||
[ Seite 210 ] [ Seite 212 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |