Kant: AA I, Die Frage, ob die Erde veralte, ... , Seite 203 |
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01 | langen Zeiten merklich zurück zieht und große Strecken, die vordem im | ||||||
02 | Grunde des Meeres lagen, in trocken Land verwandelt, entweder eine | ||||||
03 | wirkliche Verzehrung dieses flüssigen Elements durch eine Art der Transformation | ||||||
04 | in einen festen Zustand besorgen, oder andere Ursachen befürchten, | ||||||
05 | die den Regen, der aus dessen Ausdünstungen besteht, hindern | ||||||
06 | wiederum dahin zurück zu kehren, woher er erhoben worden. | ||||||
07 | Die vierte und letzte Meinung kann derjenigen ihre sein, die | ||||||
08 | einen allgemeinen Weltgeist, ein unfühlbares, aber überall wirksames | ||||||
09 | Principium als das geheime Triebwerk der Natur annehmen, dessen | ||||||
10 | subtile Materie durch unaufhörliche Zeugungen beständig verzehrt würde, | ||||||
11 | daher die Natur in Gefahr stände bei dessen Verminderung in einer | ||||||
12 | allmähligen Ermattung alt zu werden und zu ersterben. | ||||||
13 | Diese Meinungen sind es, die ich zuvörderst kürzlich prüfen und | ||||||
14 | dann diejenige gründen will, welche mir die wahre zu sein dünkt. | ||||||
15 | Wofern es mit der ersten Meinung seine Richtigkeit hätte, so würde | ||||||
16 | folgen, daß alles Salz, womit die Gewässer des Oceans und aller | ||||||
17 | mittelländischen Meere geschwängert sind, vordem mit dem Erdreich, | ||||||
18 | welches das feste Land bedeckt, vermischt gewesen und, indem es, durch | ||||||
19 | den Regen aus demselben ausgewaschen, durch die Flüsse dahin abgeführt | ||||||
20 | worden, auch beständig auf die gleiche Art noch hineingebracht | ||||||
21 | werde. Allein zum Glücke für die Erde und zum Widerspiel für diejenige, | ||||||
22 | die vermittelst einer solchen Hypothese die Salzigkeit des Meeres | ||||||
23 | durch eine leichte Erklärung begreiflich zu machen gedenken, findet man | ||||||
24 | bei genauer Prüfung diese Vermuthung ungegründet. Denn vorausgesetzt: | ||||||
25 | daß die mittlere Quantität des Regenwassers, was in einem | ||||||
26 | Jahr auf die Erde fällt, 18 Zoll hoch sei, welches diejenige Menge ist, | ||||||
27 | die in der temperirten Zone beobachtet worden, und daß alle Flüsse | ||||||
28 | von dem Regenwasser entspringen und genährt werden, imgleichen daß | ||||||
29 | von dem Regen, der auf das feste Land fällt, nur zwei Drittel durch | ||||||
30 | die Flüsse wiederum ins Meer komme, ein Drittel aber theils verdunstet, | ||||||
31 | theils zum Wachsthum der Pflanzen angewandt wird, endlich: | ||||||
32 | daß das Meer nur die Hälfte der Oberfläche der Erde einnehme, welches | ||||||
33 | das mindeste ist, das man annehmen kann: so wird man die angeführte | ||||||
34 | Meinung in die vortheilhafteste Bedingungen versetzt haben, | ||||||
35 | und dennoch werden alle Ströme des Erdbodens in das Meer in einem | ||||||
36 | Jahre nur 1 Schuh Wasser hineinbringen und würden es, wenn man | ||||||
37 | die mittlere Tiefe desselben auch nur hundert Klafter annimmt, dennoch | ||||||
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