Kant: Briefwechsel, Brief 794, Von Iohann Gottlieb Fichte. |
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| Von Iohann Gottlieb Fichte. | |||||||
| 1. Ian. 1798. | |||||||
| Verehrungswürdiger Freund und Lehrer. | |||||||
| Meinen innigsten Dank für Ihr gütiges Schreiben, welches meinem | |||||||
| Herzen wohlthätig war. Meine Verehrung für Sie ist zu groß als | |||||||
| daß ich Ihnen irgend etwas übel nehmen könnte; und noch dazu etwas | |||||||
| so leicht zu erklärendes, als Ihre verzögerte Antwort: aber es würde | |||||||
| mich betrübt haben, Ihre gute Meinung, die ich mir erworben zu | |||||||
| haben glaubte, wieder verloren zu haben. Ich lebe im Mittelpuncte | |||||||
| der literarischen Anekdotenjägerei, und Klätscherei; (ich meine damit | |||||||
| nicht sowohl unser Iena; denn hier haben wir größtentheils ernfthaftere | |||||||
| Beschäftigungen, als den ganzen Umkreis, der uns umgiebt) und hatte | |||||||
| seit Iahren mancherlei hören müssen. Ich kann mir sehr wohl denken | |||||||
| wie man endlich der Speculation satt werden müsse. Sie ist nicht | |||||||
| die natürliche Atmosphäre des Menschen; sie ist nicht Zweck, sondern | |||||||
| Mittel. Wer den Zweck, die völlige Ausbildung seines Geistes, die | |||||||
| vollkommne Uebereinstimmung mit sich selbst, erreicht hat, der läßt das | |||||||
| Mittel liegen. Dies ist Ihr Zustand, verehrungswürdiger Greis. | |||||||
| Da Sie selbst sagen, daß "Sie die Subtilität der theoretischen | |||||||
| Speculation, besonders was ihre neuere äußerst zugespitzte Apices | |||||||
| betrifft, gern Andern überlassen" so bin ich desto ruhiger wegen der | |||||||
| mißbilligenden Urtheile über mein System, welche fast Ieder, der sich | |||||||
| zu dem zahlreichen Heere der deutschen Philosophen rechnet, von Ihnen | |||||||
| in den Händen zu haben vorgiebt; wie denn noch ganz neuerlich Herr | |||||||
| Bouterweck, der genügsame Recensent Ihrer Rechtslehre, und der | |||||||
| Reinhold'schen Vermischten Schriften, in den Göttingischen Anzeigen, | |||||||
| ein solches von Ihnen erhalten haben will; wie ich durch den Canal | |||||||
| meiner Zuhörer vernehme. - Dies ist nun so die Welt, in der ich lebe. | |||||||
| Es gereicht mir zum lebhaftesten Vergnügen, daß meine Darstellung | |||||||
| Ihren Beifall findet. Ich glaube es nicht zu verdienen, wenn | |||||||
| derselbe Bouterweck sie für barbarisch (in den Göttingschen Anzeigen) | |||||||
| ausschreit. Ich schätze das Verdienst der Darstellung sehr hoch, und | |||||||
| bin mir einer großen Sorgfalt bewußt, die ich sehr früh angewendet, | |||||||
| um eine Fertigkeit darin zu erhalten; und werde nie ablassen, da | |||||||
| wo es die Sache erlaubt, Fleiß auf sie zu wenden. Deswegen | |||||||
| aber denke ich doch noch gar nicht daran, der Scholastik den Abschied | |||||||
| zu geben. Ich treibe sie mit Lust und Leichtigkeit, und sie stärkt und | |||||||
| erhöht meine Kraft. Ueberdies habe ich ein beträchtliches Feld derselben | |||||||
| bisher blos im Vorbeigehen berührt, aber noch nicht mit Vorsatz | |||||||
| durchmessen: das der Geschmacks=Kritik. | |||||||
| Mit innigster Verehrung | |||||||
| Ihr | |||||||
| ergebenster | |||||||
| Iena, d. 1. Iänner 1798. | Fichte. | ||||||
| [ abgedruckt in : AA XII, Seite 230 ] [ Brief 793b ] [ Brief 794a ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] |
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