Kant: Briefwechsel, Brief 657, Von Samuel Collenbusch. |
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| Von Samuel Collenbusch. | |||||||
| 30. März 1795. | |||||||
| Lieber Herr Professor, Wissen - u. Wollen - u. Können u. | |||||||
| Thun - Der Unterschied ist groß. Von disen vier Sachen halt ich | |||||||
| das Letzte für das Beste. Unsere unendlich kleine Vernunft kommt | |||||||
| ganz unwissend aus Mutterleibe - Sie aber sprechen von der Vernunft | |||||||
| als ob dieselbe eine Vielwissenheit mitbrächte aus Mutterleibe. | |||||||
| Meine Vernunft ist ein unwissender Schüler der Erfahrung u. der | |||||||
| Offenbarung - meine Vernunft ist eben kein unfleißiger Schüler gewesen | |||||||
| der Erfahrung u. der Offenbarung - meine Vernunft hat ein | |||||||
| bisgen Sprache gelernet - ein bisgen Rechnen - ein bisgen von | |||||||
| den drey Natur=Reichen - ich habe auch ein bisgen von der Sternkunde | |||||||
| gelernet - in Ansehung der allgemeinen Weltgeschichte bin ich | |||||||
| auch nicht ganz unwissend geblieben - von allem disem Wissen hab | |||||||
| ich nichts mitgebracht aus Mutterleibe. Wenn ich nun jemand reden | |||||||
| höre, der etwas spricht, welches mit meinem Wissen nicht übereinstimmt, | |||||||
| alsdenn spreche ich mit mir selbst - dises streitet wider mein Wissen; | |||||||
| ich sage aber nie "dises streitet wider meine Vernunft - denn meine | |||||||
| Vernunft ist so demüthig, daß sie sich keine Päpstliche Untrüglichkeit | |||||||
| anmaßet - ich finde aber wenig Weltweise so demüthig. | |||||||
| Unsere Vernunft, so klein sie auch immer seyn mag in Vergleichung | |||||||
| mit höheren Geistern, so ist sie doch ein Erkenntnißvermögen, welches | |||||||
| die Thiere weit übertrifft - denn die Thiere können unmöglich das | |||||||
| Wissen erlangen, was meine Vernunft durch fleißiges Lernen erlangt | |||||||
| hat - die Thiere können die Erkenntniß nicht erlangen Was Weisheit | |||||||
| u. Thorheit ist - was Recht u. Unrecht ist - daher können | |||||||
| ihnen keine Regeln der Weisheit u. keine Gesetze der Gerechtigkeit gegeben | |||||||
| werden; | |||||||
| Am allerwenigsten können die Thiere verpflichtet werden zu dem | |||||||
| in aller Menschen Herzen geschriebenen Gesetzen der Liebe. | |||||||
| Die Thiere können nicht erkennen, daß es nützlich u. erfreulich | |||||||
| ist, Gott den allergrößesten Wohlthäter zu lieben über Alles, u. seinen | |||||||
| Nächsten als sich selbst. Dises Wissen ist etwas Gutes, dieses Wollen | |||||||
| ist etwas beßeres - dises ohne alle innerliche Hindernisse allezeit | |||||||
| Können, das ist noch besser - dises allezeit Thun das ist das | |||||||
| Allerbeste. | |||||||
| Sie schreiben in Ihrer Moral S. 1. "Es ist über all nichts in | |||||||
| "der Welt, ja überhaupt auch ausser derselben zu denken möglich was | |||||||
| "ohne Einschränkung für Gut könnte gehalten werden, als allein | |||||||
| "ein guter Wille." Allein ein guter Wille!!! Ich habe mich sehr | |||||||
| verwundert über dise Worte - Ich mache mir eine Ehre daraus ein | |||||||
| Nachbether zu seyn Moses u. der Propheten, der Evangelisten u. der | |||||||
| Apostel - ich kann mich aber unmöglich überwinden ein Nachbether | |||||||
| diser Worte zu seyn. | |||||||
| Wer die Gesetze der Freundschaft u. die Gesetze der Liebe unterscheidet, | |||||||
| der irret nicht. Das Gesetz der Freundschaft ist das niedrigste | |||||||
| Prinzip der Sittlichkeit; das Gesetz der Liebe ist das oberste Prinzip | |||||||
| der Sittlichkeit - Daher behauptet Cic[ero] in seinem Buche de oficiis | |||||||
| "Keine Räuberbande könne ohne Freundschaft bestehen." | |||||||
| Die seinen Nächsten beßernde Liebe ist das oberste Prinzip der | |||||||
| Sittlichkeit - Man darf, um sich davon zu überzeugen nur an die | |||||||
| Gleichnißrede Iesu "von dem barmherzigen Samariter" denken | |||||||
| diese Räuberbande hätte nicht bestehen können Wenn nicht einer an | |||||||
| dem andern das allerniedrigste Prinzip der Sittlichkeit auszuüben gewohnt | |||||||
| gewesen wären. Der Priester u. Levit giengen vorüber | |||||||
| - Der Samariter war ein Thäter des in aller Menschen Herzen | |||||||
| durch Gottes Finger geschriebenen Gesetzes der Liebe. Er übte | |||||||
| beßernde Liebe aus - Er hatte nicht allein ein gutes Wissen - u. | |||||||
| einen guten Willen, sondern auch ein gutes Können, u. ein gutes | |||||||
| Thun, weil seine Lüste des alten Menschen ihn damals nicht hinderten, | |||||||
| wie den Priester u. den Leviten. Es ist demnach gewiß, daß die | |||||||
| Freundschaft, welche auch unter bösen Menschen ausgeübt wird das | |||||||
| niedrigste Prinzip der Sittlichkeit ist, so wie es auch das allgemeinste ist. | |||||||
| Der von Ihnen, lieber Herr Professor, verachtete Moses hat vor | |||||||
| mehr als drey tausend Iahren schon das Gesetz gegeben "Wenn du | |||||||
| deines Feindes Ochsen oder Esel siehest unter der Last liegen - so | |||||||
| versäume gern das Deine um seinetwillen" - dises ist eine Ausübung | |||||||
| der beßernden Liebe, so gar an den Lastthieren seines Feindes. Gütigkeit | |||||||
| ausüben, beßernde Liebe ausüben an den undankbaren u. boshaften | |||||||
| Menschen das ist das oberste Prinzip der Mosaischen u. Christlichen | |||||||
| Sittlichkeit - Wer das allgemeine u. oberste Prinzip der Sittlichkeit | |||||||
| nicht unterscheiden kann, der hat keine gesunde Vernunft. Wer | |||||||
| keine gesunde Vernunft hat, deßen Wille kann unmöglich das oberste | |||||||
| gesetzgebende Prinzip der Sittlichkeit seyn - Die Autonomie des | |||||||
| Willens eines solchen Menschen der keine gesunde Vernunft hat, kann | |||||||
| unmöglich das oberste Prinzip der Sittlichkeit seyn. Gott hat ganz | |||||||
| gewiß eine gesunde Vernunft, Gottesgesetzgebung ist demnach für mich | |||||||
| das oberste Prinzip der Sittlichkeit - Die Summe aller Verheissungen, | |||||||
| die Gott den Menschen gegeben hat, sind das oberste Prinzip meines | |||||||
| Hoffnungsreichen Glaubens - Die Summe aller Gebothe sind das | |||||||
| oberste Prinzip meiner mich selbst u. den Nächsten beßernden Liebe. | |||||||
| Ich will gern tauschen, wenn mir jemand etwas beßeres schenken | |||||||
| kann - ist das nicht billig? Ich hoffe, Sie sind mit meiner Billigkeit | |||||||
| zufrieden - u. Verharre in diser Hoffnung zu seyn Ihr | |||||||
| Freund u. Diener | |||||||
| Barmen bey Elberfeld | Samuel Collenbusch | ||||||
| im Bergischen d. 30ten März | med. Doctor | ||||||
| 1795 | |||||||
| [ abgedruckt in : AA XII, Seite 012 ] [ Brief 656 ] [ Brief 658 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] |
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