| Kant: Briefwechsel, Brief 58, Von Marcus Herz. | |||||||
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| Von Marcus Herz. | |||||||
| 11. Sept. 1770. | |||||||
| Ewig unvergeßlicher Lehrer | |||||||
| Insonders Hochzueehrender Herr Profeßor | |||||||
| Verzeihen Sie mir theuerster Herr Profeßor, daß ich, da ich mich | |||||||
| schon seit Donnerstag allhier befinde, erst jezo meine Aufwartung | |||||||
| mache; das ungewöhnliche Wachen, das fünftägige Fahren und die | |||||||
| ununterbrochne Erschüttrungen, die man auf dem Postwagen empfindet, | |||||||
| hatten meinen zur Bequemlichkeit beynahe schon verwöhnten Körper | |||||||
| dermaßen geschwächt, daß ich zu jeder andern wichtigen Sache untüchtig | |||||||
| war, und um wie viel mehr zur Unterhaltung mit Ihnen? Der | |||||||
| bloße Gedanken an Sie setzt meine Seele in eine Ehrfurchtvolle Erstaunung, | |||||||
| u. mit vieler Mühe nur bin ich alsdenn fähig mein zerstreutes | |||||||
| Bewustseyn wieder zu sameln, u. meine Gedanken fortzusetzen. | |||||||
| Sie allein sind es dem ich meine glückliche Verändrung des | |||||||
| Zustandes zu danken habe, dem ich ganz mich selbst schuldig bin; | |||||||
| ohne Ihnen würde ich noch jezo gleich so vielen meiner Mitbrüder, | |||||||
| gefeßelt am Wagen der Vorurtheile ein Leben führen, das einem | |||||||
| jeden viehischen Leben nach zu setzen ist; ich würde eine Seele ohne | |||||||
| Kräfte haben, ein Verstand ohne Thätigkeit, kurz ohne Ihnen wäre | |||||||
| ich dies was ich vor vier Iahre war, das ist, ich wäre nichts. | |||||||
| Freylich ist die Rolle die ich noch jezo spiele sehr klein, wenn ich | |||||||
| meine Kentniße an u. für sich betrachte, oder sie mit vieler anderer | |||||||
| ihre vergleiche; allein unendlich erhaben ist sie in vergleich mit derjenigen | |||||||
| die ich selbst vor wenige Iahre spielte. Es mag imer der | |||||||
| Trost der Unwißenden bleiben, daß wir mit alle unsere Wißenschaft | |||||||
| nicht weiter als sie gelangen; es sey imer die Klage hypochondrischer | |||||||
| Gelehrte, daß unsere Kentniße unser Unglück vermehren; ich verlache | |||||||
| die erste u. bedaure die letzte, ich werde nie aufhören den Tag, an | |||||||
| welchen ich mich den Wißenschaften übergab für den glücklichsten, u. | |||||||
| denjenigen da Sie mein Lehrer wurden für den ersten meines Lebens | |||||||
| zu halten | |||||||
| Mein erster Besuch den ich abstatete war bey HE. Mendelsohn, | |||||||
| wir unterhielten uns vier ganze Stunden über einige Materien in | |||||||
| Ihre dissertation. Wir haben eine sehr verschiedene Philosophie, er | |||||||
| folgt Baumgarten buchstäblich, u. er schien mir unterschiedliche mal | |||||||
| nicht gar undeutlich zu verstehen zu geben, daß er mir in einige | |||||||
| Stücke darum nicht beypflichtet, weil es mit Baumgartens Meynungen | |||||||
| nicht übereinstimt. Die Dissertation gefält ihm über die maßen | |||||||
| schön, und er bedauert nur daß Sie nicht etwas weitläuftiger waren. | |||||||
| Er bewundert die Scharfsinigkeit die in diesem Satze ist, daß, wenn | |||||||
| in einem Satze das Praedickat sensual ist, es von dem Subieckt nur | |||||||
| subiecktiv gilt, hingegen wenn es intellectual ist. u.s.w. Desgleichen | |||||||
| die Entwicklung des infiniti, die Auflösung von Kästners Aufgabe. | |||||||
| Er wird mit nächstens etwas heraus geben, worin, wie er sagt, es | |||||||
| scheinen wird daß er die ganze erste section bloß abgeschrieben hätte, | |||||||
| kurz er hält die ganze Dissert. für ein vortrefliches Werk, nur daß er | |||||||
| einige Stücke darin noch nicht völlig zu giebt, dahin gehört, daß man | |||||||
| bey der Erklärung des Raums sich des Worts simul bedienen muß | |||||||
| noch bey der Zeit, des Wortes post, Auch im Satz des Widerspruchs | |||||||
| darf seiner Meynung nach nicht simul gesetzt werden, ich werde ins | |||||||
| künftige Gelegenheit haben, mehr mit ihm davon zu sprechen, u. ich | |||||||
| werde nie unterlaßen meinem theuren Lehrer Rechenschafft davon abzulegen. | |||||||
| Es ist dieses Mannes liebste Unterhaltung, Metaphis[ische] | |||||||
| Materien zu entwickeln, u. die Helfte der Zeit welche ich hier bin, | |||||||
| habe ich bey ihm zugebracht, Er wird auch an Sie, selbst schreiben, | |||||||
| aber er wird sich nur kurz faßen, er glaubt subtiliteten laßen sich | |||||||
| durch correspondence nicht schlichten. Ich bin eben beschäftigt ihm | |||||||
| einen kleinen Aufsatz zu machen, worin ich ihm die Falschheit des Beweises | |||||||
| vom Daseyn Gottes apriori zeigen will, Er ist für diesen Beweis | |||||||
| sehr eingenommen, was wunder, er wird ja von Baumgarten angenommen. | |||||||
| In kurzem wird heraus kommen von HE. Mendelsohn, Freindschafftl. | |||||||
| Briefe, sein Phädon, worin das dritte Gespräch sehr geändert ist; | |||||||
| seine philosophische Schrifften mit einem Anhange, in welchen er von der | |||||||
| Materie handeln wird, die der HE. Profeßor einst bearbeitet, | |||||||
| nehmlich von dem Widerstreit der Realiteten unter ein ander , u. | |||||||
| endlich 15 Psalmen in deutsche Versen übersetzt. So bald dieses zu | |||||||
| haben ist, so überschicke ich es Ihnen. | |||||||
| In übrigen hat mich der HE. Mendelsohn sehr gut aufgenommen, | |||||||
| und ich wünsche, daß ich wirklich das wäre wofür er mich hält. | |||||||
| Bey den übrigen Gelehrten u. beym Minister bin ich noch nicht | |||||||
| gewesen, weil ich die Briefe noch nicht habe. Sie waren so gut u. sie | |||||||
| mit künftige Post versprochen, ich erwarte sie mit Ungeduld. | |||||||
| Mißvergnügt bin ich, daß Sie theurster Lehrer sich unpäßlich | |||||||
| befinden, ist es den gar nicht möglich, daß Sie sich die Last ihrer | |||||||
| collegien verringern können? wenn Sie nun die Helfte Nachmittag | |||||||
| leseten oder überhaubt nicht mit so vieler Anstrengung vortrügen? | |||||||
| Denn diese allein u. nicht das Sitzen scheint mir die Ursache Ihrer | |||||||
| Schwäche zu seyn. Es giebt ja Lehrer in Königsberg die von | |||||||
| Morgen bis Abend sitzen u. ihr Mund bewegen, ohne daß sie jemals | |||||||
| über ihre Leibesbeschaffenheit zu klagen haben. Wenn Sie für gut befinden, | |||||||
| daß ich hiesige Aerzte consultire, so belieben Sie so gut zu | |||||||
| seyn, u. schreiben mir umständlich den ganzen Zustand ihres Körpers, | |||||||
| wie glücklich möchte ich mich schätzen, wenn ich auch nur das kleinste | |||||||
| Werkzeug zu Ihrem Wolbefinden seyn konnte! | |||||||
| Ich habe Sie dies mal mit einem sehr großen Brief belästigt, | |||||||
| verzeihen Sie, daß ich Ihre Erlaubniß mißbrauche, es ist eine | |||||||
| Wollustige Stunde für mich, die ich mit Ihnen zu bringe, u. | |||||||
| wo ist der Sterbliche, der in solchen Empfindungen Maaß finden | |||||||
| kann? | |||||||
| fahren Sie fort mir Ihre Gewogenheit zu würdigen, u. seyn | |||||||
| Sie versichert daß ich nie aufhören werde stolz zu seyn, daß es mir | |||||||
| erlaubt ist Sie zu verEhren. | |||||||
| Dero untherthanigster Schüler | |||||||
| Berlin d. 11. Septbr. 1770, | u. gehorsamster Diener | ||||||
| Mein compliment an HE. Kanter. | Marc. Hertz. | ||||||
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