| Kant: Briefwechsel, Brief 41, Von Iohann Gottfried Herder. | |||||||
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| Von Iohann Gottfried Herder. | |||||||
| [Nov. 1768] | |||||||
| HochEdelgebohrner Herr Magister | |||||||
| Hochgeschätzter Lehrer und Freund, | |||||||
| Sie haben, ich weiß u. hoffe es, einen zu gütigen Begrif von | |||||||
| meiner Denkart, als daß Sie mein bisheriges Stillschweigen für | |||||||
| Saumseligkeit oder etwas noch Ärgers halten sollten. Blos meine | |||||||
| Geschäfte, die wegen ihrer Incommensurabilität insonderheit lästig | |||||||
| fallen, eine Menge Zerstreuungen, u. denn insonderheit jene uneasiness | |||||||
| der Seele, die Locke für die Mutter so vieler Unternehmungen hält, | |||||||
| ist bei mir eine Zeitlang die Mutter einer gelähmten Ruhe gewesen, | |||||||
| aus der ich jetzt kaum wieder erwache. | |||||||
| Ich kann nicht sagen, wie sehr mich Ihr Brief erfreuet hat. | |||||||
| Das Andenken meines Lehrers, der so freundschaftliche Ton, der | |||||||
| darinn herrschet, der Inhalt selbst - alles machte mir denselben so sehr | |||||||
| zum Geschenke, als mir keiner von denen Briefen wird, die mich oft aus | |||||||
| Deutschland u. von den würdigsten Leuten daselbst, bis von der | |||||||
| Schweiz aus aufsuchen. Um so mehr war er mir theuer, da ich Ihre | |||||||
| Ungeneigtheit zum Briefschreiben, von der ich auch was geerbet, | |||||||
| kenne - - doch was heißts, ein Vergnügen demonstrativisch aufzälen | |||||||
| wollen. | |||||||
| Sie sind so gütig, meiner Autorschaft in einem Tone zu erwähnen, | |||||||
| in dem ich an sie nicht denke. Ich nenne dieselbe wenig | |||||||
| mehr als einen leichten Schritt der Iugend, der mir freilich nicht | |||||||
| zum Schaden, oder im Ganzen zur Unehre gereicht hat, den ich aber | |||||||
| in manchem Betracht zurückwünsche. Nicht, als wenn ich so viel Unverantwortliches | |||||||
| geschrieben; sondern vornehmlich weil mein Name | |||||||
| dabei so bekannt, u. auf manchen Lippen so sehr abusirt worden, da | |||||||
| Ihr guter Wirth, u. mein guter Freund HE. Kanter mir ohne seinen | |||||||
| Willen dabei den übelsten Streich u. das auf Reihen von Vorfällen | |||||||
| hinaus, gespielt hat, indem er die erste Ursache dieser Bekanntmachung | |||||||
| geworden. Mein vester Vorsatz, u. ich schreibe dies kaltblütig hin, | |||||||
| war, völlig ohne Namen zu schreiben, bis ich die Welt mit einem | |||||||
| Buch überraschen könnte, das meines Namens nicht unwürdig wäre. | |||||||
| Hiezu, u. aus keiner andern Ursache wars, daß ich hinter einer | |||||||
| Blumendecke eines verflochtnen Styls schrieb, der mir nicht eigen | |||||||
| ist, u. Fragmente in die Welt sandte, die blos Vorläuferinnen seyn | |||||||
| wollen, oder sie sind unleidlich. | |||||||
| Von meiner Seite werde ich mein Namenloses Stillschweigen fortsetzen, | |||||||
| aber was kann ich dafür, daß die unzeitige Güte meiner | |||||||
| Freunde mir bei diesem Stillschweigen den Plan verdorben? Sie, | |||||||
| m. F. müßen Einer derer seyn, die es wißen, daß Materien der | |||||||
| Art wie in meinen bisherigen Bändchen, wohl nicht der Ruhesitz | |||||||
| meiner Muse seyn sollten warum aber sollte ich nicht mein bischen | |||||||
| Philosophie eben bei den Modematerien unsres HalbviertheilIahrhunderts | |||||||
| anwenden, wo die Anwendung, wie ich mir schmeichelte, | |||||||
| einer gesunden Philosophie so vieles berichtigen konnte? Ich wei | |||||||
| nicht, wie sehr unsre Philologie und Critik u. Studium des Alterthums | |||||||
| in das Mark einer wahrhaften Kürze zurücktreten müßte, wenn | |||||||
| überall Philosophen philologisirten, und critisirten, u. die Alten | |||||||
| studirten. Schade aber, daß dies Wort anfängt, in Deutschland | |||||||
| beinahe zum Gespött zu werden, u. Studien die Modewißenschaften | |||||||
| werden, wo die unphilosophischsten Köpfe schwatzen - | |||||||
| Doch ich schreibe ja beinahe schon wieder als Kunstrichter u. | |||||||
| Fragmentist, u. breche also um so kürzer u. härter ab. | |||||||
| Das Feld, mein geschätzter Freund, das Sie mir auf meine | |||||||
| künftigen Lebensjahre hinter einem Montagne, Hume u. Pope anweisen, | |||||||
| ist, wenn die Hoffnung darüber zu schmeichelhaft ist, | |||||||
| wenigstens (doch mit einer kleinen Abbeugung des Weges) der | |||||||
| Wunsch meiner Muse. Es ist für mich die Beschäftigung mancher | |||||||
| süßen Einsamkeiten gewesen, Montagne'n mit der stillen Reflexion zu | |||||||
| lesen, mit der man den Launen seines Kopfs folgen muß, um jede | |||||||
| Geschichte, die er im Zuge anführt, jeden losen u. schlüpfenden Gedanken | |||||||
| den er verräth, zu einer Naturproduktion, oder zu einem | |||||||
| Kunstexperiment der Menschlichen Seele zu machen. Welch ein | |||||||
| Mann wär' es, der über Baumgartens reiche Psychologie mit eines | |||||||
| Montagne Seelenerfahrung redete! - - Hume konnte ich, da ich noch | |||||||
| mit Roußeau schwärmte, weniger leiden, allein von der Zeit an, da | |||||||
| ich es allmälig mehr inne ward, daß, es sey wes Weges es sey, der | |||||||
| Mensch doch einmal ein geselliges Thier ist, u. seyn muß - von da | |||||||
| aus habe ich auch den Mann schätzen gelernt, der im eigentlichsten | |||||||
| Verstande ein Philosoph Menschlicher Gesellschaft genannt werden | |||||||
| kann. Ich habe in der Schule die Britannsche Geschichte meistens | |||||||
| auch deßwegen angefangen, um mit dem grösten Geschichtschreiber | |||||||
| unter den Neuern auch seine Geschichte durchweg durchraisonniren zu | |||||||
| können, u. ich ärgere mich, daß sein neuer Abriß von Großbrittanien | |||||||
| einem so halbklugen Uebersetzer in die Hand gefallen, der weit ist, | |||||||
| wenn er uns an manchen Orten auch halb klug läßt. | |||||||
| Aber warum vergeßen Sie, mein liebenswürdiger Philosoph! zu | |||||||
| Ihrem Paar den dritten Mann? der eben so viel gesellige Laune, | |||||||
| eben so viel Menschliche Weltweisheit hat - - den Freund unsers | |||||||
| alten Leibnitz, dem dieser ungemein viel schuldig ist, u. den er sehr | |||||||
| gerne gelesen - - den Philosophischen Spötter, der mehr Wahrheit | |||||||
| herauslacht, als andre heraushusten, oder geifern - - kurz | |||||||
| den Grafen Shaftesburi. Es ist ein Elend, daß die Sittenlehren | |||||||
| deßelben u. seine Untersuchungen über die Tugend, u. neuerlich seine | |||||||
| Abhandlungen über den Enthusiasmus, u. die Laune in so mittelmäßige | |||||||
| Hände gefallen sind, die uns halb an ihm vereckeln, wohin | |||||||
| ich insonderheit das Mischmasch von langen u. tollen Widerlegungen | |||||||
| des neuesten Übersetzers rechne. Aber sonst, ob mir gleich das | |||||||
| Criterium der Wahrheit bei ihm, das bei ihm Belachenswürdigkeit | |||||||
| ist, selbst lächerlich scheint, sonst ist dieser Autor mein so lieber Gesellschafter, | |||||||
| daß ich sehr gern auch Ihre Meinung für ihn hätte. | |||||||
| Laßen Sie doch ja das dunkle rauhe Gedicht, an das Sie gedenken, | |||||||
| in seiner Nacht umkommen. Ehe Pope in ihm seyn sollte, | |||||||
| ehe ist in unserm Lindner der scharfbestimmte Aristoteles und in | |||||||
| meinem Schlegel das Muster aller Urbanität. | |||||||
| Sie geben mir von Ihrer werdenden Moral Nachricht, und wie | |||||||
| sehr wünschte ich, dieselbe schon geworden zu sehen. Fügen Sie in | |||||||
| dem, was Gut ist, ein solches Werk zur Cultur unsers Iahrhunderts | |||||||
| hinzu, als Sie es gethan, in dem was Schön u. Erhaben ist. | |||||||
| Ueber die letzte Materie lese ich jetzt mit vielem Vergnügen ein Werk | |||||||
| eines sehr Philosophischen Britten, das Sie auch französisch haben | |||||||
| können. Hier ist, weil es eben vor mir liegt, sein Titel: Recherches | |||||||
| philosophiques sur l'origine des Idees, que nous avons du Beau et du | |||||||
| Sublime . Er dringt in manchen Stellen tiefer, so wie Sie auf | |||||||
| manchen Seiten unsre Aussichten mehr zu generalisiren u. zu | |||||||
| contrastiren wissen: u. es ist eine Wollust zween so originale Denker | |||||||
| jeder seinen Weg nehmen zu sehen, u. sich wechselsweise wieder zu | |||||||
| begegnen. | |||||||
| Wie manches hätte ich Ihnen zu sagen, wenn ich wüste, daß Sie | |||||||
| Geduld haben würden, mir zu antworten. Zweifel wider manche | |||||||
| Ihrer Philosophischen Hypothesen u. Beweise, insonderheit da wo Sie | |||||||
| mit der Wißenschaft des Menschlichen gränzen sind mehr als | |||||||
| Spekulationen: u. da ich aus keiner andern Ursache mein geistliches | |||||||
| Amt angenommen, als weil ich wuste, u. es täglich ans der Erfahrung | |||||||
| mehr lerne, daß sich nach unsrer Lage der bürgerl. Verfassung | |||||||
| von hieraus am besten Cultur u. Menschenverstand unter den | |||||||
| ehrwürdigen Theil der Menschen bringen laße, den wir Volk nennen: | |||||||
| so ist diese Menschliche Philosophie auch meine liebste Beschäftigung. | |||||||
| Ich müste ungerecht seyn, wenn ich mich darüber beklagte, daß ich | |||||||
| diesen Zweck nicht erreichte, wenigstens machen auch hierinn die guten | |||||||
| Anläße, die ich sehe, die Liebe, die ich bei vielen Guten u. Edeln | |||||||
| genieße, das freudige u. willige Zudringen des bildsamsten Theils | |||||||
| des Publikum, der Iünglinge u. Dames - - alles dieses macht | |||||||
| mir zwar keine Schmeichelei, aber desto mehr ruhige Hoffnung, nicht | |||||||
| ohne Zweck in der Welt zu seyn. - | |||||||
| Da aber die Liebe von uns selbst anfängt, so kann ich den | |||||||
| Wunsch nicht bergen, die erste beste Gelegenheit zu haben, meinen | |||||||
| Ort zu verlaßen u. die Welt zu sehen. Es ist Zweck meines Hierseyns, | |||||||
| mehr Menschen kennen zu lernen, u. manche Dinge anders zu | |||||||
| betrachten, als Diogenes sie aus seinem Faße sehen konnte. Sollte | |||||||
| sich also ein Zug nach Deutschland vorfinden, ich binde mich selbst | |||||||
| kaum an meinen Stand: so weiß ich nicht, warum ich nicht dem | |||||||
| Zuge folgen sollte, u. nehme es mir selbst übel, den Ruf nach Petersburg | |||||||
| ausgeschlagen zu haben, welche Stelle, wie es der Anschein gibt, | |||||||
| sehr leidig besetzt ist. Ietzt suche ich, wie eine rückgehaltne Kraft, | |||||||
| nur wenigstens eine lebendige Kraft zu bleiben, ob ich gleich nicht | |||||||
| sehe, wie der Rückhalt meine innere Tendenz vermehren sollte. - | |||||||
| Doch wer weiß das? u. wo komme ich hin? - Lieben Sie mich, mein | |||||||
| liebster, hochgeachteter Kant, und nehmen Sie die Unterschrift meines | |||||||
| Herzens an | |||||||
| Ihr | |||||||
| Herder. | |||||||
| P. S. Freilich darf ich um Ihre Briefe nur sehr unzuverläßig bitten, | |||||||
| da ich Ihre Ungemächlichkeit zu schreiben kenne; aber würden Sie meine | |||||||
| Begierde kennen, Briefe von Ihnen mir gleichsam statt eines lebendigen | |||||||
| Umgangs zu nutze zu machen, so würden Sie Ihre Ungemächlichkeit | |||||||
| überwinden? | |||||||
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