| Kant: Briefwechsel, Brief 16, Von Iohann Gotthelf Lindner. | |||||||
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| Von Iohann Gotthelf Lindner. | |||||||
| Riga den 15/26ten Xbr 1759. | |||||||
| Hochedelgeborner Herr! | |||||||
| Hochzuehrender HErr Magister! | |||||||
| Werther Freund! | |||||||
| Unser gemeinschaftl. Freund hat mich ermuntert, Ew. Hochedelgeb. | |||||||
| zuweilen schriftl. zu besuchen. Er hat mir verschiedne kleine Anschläge | |||||||
| von Ihnen mitgetheilet, davon die Theorie von den Winden weitere | |||||||
| Ausforschung verdient. Ich bin Ihnen auch recht sehr für die Gedanken | |||||||
| über das Erdbeben verpflichtet. Sie haben den Vorzug, frühe | |||||||
| von einer Sache geredet zu haben, über die hernach ganze Bücher entstanden. | |||||||
| Ihre Gedanken über den Optimismus haben einen Gegner | |||||||
| gefunden, der, wenn er scherzen oder witzeln will, ins alberne oder | |||||||
| plumpe fällt, und wenn er seine Logick oder vielmehr seinen Kopf ansetzt, | |||||||
| unbekehrl[ich] ist. Denn wenn Sie ihn aus allen Redouten herausschlügen: | |||||||
| so setzt er sich hinter die Hauptbatterie; daß die beste Welt gegen die | |||||||
| Freiheit des göttl. Willens sey, gerade als wenn es bey Gott heissen | |||||||
| müsse: sic volo, sic jubeo, stat pro ratione voluntas. Allein was | |||||||
| ist nun mit ihm anzufangen? Die Natur der göttl. Freiheit ist für | |||||||
| uns eben so ein Feld zu Räthseln als die Natur seiner Weisheit. Daher | |||||||
| haben sie ganz gut gethan, ihm nichts weiter zu sagen Appelliren | |||||||
| Sie ad futura, und ich halte mit dem Sokrates dafür: das | |||||||
| wenige, was ich einsehe, find ich gut, ich denke, das übrige, so ich | |||||||
| nicht verstehe, wird es auch seyn. Und noch ein höherer Schriftsteller | |||||||
| saget, zum wenigsten für uns, diese ganz richtige Wahrheit in seinen | |||||||
| Psalmen: die Wege des Herrn sind eitel Güte und Wahrheit. Wenn | |||||||
| ich seine Antwort durchlese: so find ich zuletzt einen Wortstreit. Will | |||||||
| er nicht zugeben, daß das die beste Welt sey, wo die meisten Realitäten | |||||||
| vorhanden sind, sondern daß diejenige gewählt worden, die | |||||||
| Gottes Endzwecken am gemässesten gewesen: so ist das ja eben die Beste. | |||||||
| Er greift also nicht sowohl den Satz als die Art zu beweisen an. Ew. | |||||||
| Hochedl. Gedanken, daß Realitäten durch Graden unterschieden und | |||||||
| diese als Negationen oder Schranken anzusehen sind, wünschte entwickelter | |||||||
| zu seyn. Schranken würden die Grade immer seyn, aber ob sie Negationes | |||||||
| sind, weiß ich nicht. Der Grad der Hitze eines Fiebers kan bey einem | |||||||
| Patienten stärker seyn als beim andern z. E. in hitzigen Fiebern. | |||||||
| Der Grad einer auszehrenden Hitze bey dem andern Patienten kan | |||||||
| in sich, gegen jenen gehalten, schwächer seyn; und doch beider Fieber | |||||||
| summatis summandis gleich gefährl[ich] seyn. Ich habe HE. Weymanns | |||||||
| Dissert. nicht ganz gelesen, sondern nur zwey Bogen gefunden. Ich | |||||||
| hätte sie wohl ganz, weil ich nicht aus einem Stücke urtheilen will, | |||||||
| sondern aus dem Ganzen. Er ist ein demüthiger Crusianer, der | |||||||
| p. 9 mit Meier sehr lächerl[iche] Complimenten schneidet. P. 7 frägt er: | |||||||
| quinam igitur mundorum possibilium erit perfectior reliquis s. perfectissimus . | |||||||
| Ich antworte mit jenem Wahrsager Scotus: quem Deus | |||||||
| vult , als er sagen sollte, wer König in Polen werden sollte und durch | |||||||
| Deus umgekehrt den Schweden Sigismund anzeigen wollte. P. 11 ist | |||||||
| der Beweis so geführt, daß ich pluralitatem Deorum ebenso würde | |||||||
| ausführen können. Es sey um die ganze Sache wie es wolle (denn die | |||||||
| Ewigkeit muß dies auch aufklären), so kan doch der Wahrheit nichts | |||||||
| abgehen, wenn sie immer deutlicher hervorgebracht wird, und der dünkt | |||||||
| mich, immer besser Gottes Ehre zu verfechten, der seine Weisheit vertheidigt, | |||||||
| als der ihm Capricen beilegen will. | |||||||
| Ew. Hochedelgeb. haben, wie HE. B[erens] sagt, eine Kinderphysick | |||||||
| zu schreiben, im Sinne. Was Rollin gethan ist eher eine Chrie als | |||||||
| eine Anweisung. Ihr Vornehmen würde ganz nützl[ich] seyn. Heißt es | |||||||
| für Kinder; so wollte ohnmaßgebl[ich] rathen, ihre Iahre und Fähigkeiten, | |||||||
| und Lust zu unterscheiden. Man könnte für Kinder von 9-12 | |||||||
| und 12-15 Iahren u.s.f. Abschnitte machen. Für jene würden | |||||||
| Frag und Antworten die faßlichste Methode seyn; für diese kurze Sätze | |||||||
| und eine summarische Recapitulation in Tabellen. Ich schreibe so aus | |||||||
| der Schule und rechtfertige mich damit: experto credo Ruperto. Die | |||||||
| beste Schulmethode ist wohl, die für Gedächtnis und Verstand zugl[eich] | |||||||
| sorget, und es beiden erleichtert. | |||||||
| Ich habe weiter nachgeforscht, woher der Stud. Schultz von hier | |||||||
| aus nicht ihr Zuhörer ist. Er gestehts, er ist gekarzert worden. Sie | |||||||
| werden deswegen ruhig seyn, und überhaupt bey vielen Arbeiten denken | |||||||
| müssen: Schade, daß man Perlen vor die Säue wirft. | |||||||
| Ich empfehle mich Ihrem Andenken, und bitte HE. Freytag nebst andern | |||||||
| Freunden zu begrüssen. Ich habe die Ehre, mit aller wahren Achtung zu seyn | |||||||
| Ew. Hochedelgeb. | |||||||
| ergebner Diener und Freund | |||||||
| M. Lindner. | |||||||
| [ abgedruckt in : AA X, Seite 024 ] [ Brief 14 und 15 ] [ Brief 17 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] | |||||||