| Kant: Briefwechsel, Brief 134, An Marcus Herz. | |||||||
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| An Marcus Herz. | |||||||
| Anfang April 1778. | |||||||
| Auserlesener und unschätzbarer Freund | |||||||
| Briefe von der Art, als ich sie von Ihnen bekomme, versetzen | |||||||
| mich in eine Empfindung, die, nach meinem Geschmak, das Leben | |||||||
| inniglich versüßt und gewissermaßen ein Vorschmak eines andern zu | |||||||
| seyn scheint; wenn ich in Ihrer redlichen und dankbaren Seele den | |||||||
| tröstenden Beweis, der nicht ganz fehlschlagenden Hofnung zu lesen | |||||||
| vermeyne, daß mein akademisches Leben in Ansehung des Hauptzweks | |||||||
| den ich iederzeit vor Augen habe nicht fruchtlos verstreichen werde, | |||||||
| nämlich gute und auf Grundsätze errichtete Gesinnungen zu verbreiten, | |||||||
| in gutgeschaffenen Seelen zu bevestigen und dadurch der Ausbildung | |||||||
| der Talente die einzige zweckmäßige Richtung zu geben. | |||||||
| In diesem Betracht vermischt sich meine angenehme Emfindung | |||||||
| doch mit etwas Schwermüthigem, wenn ich mir einen Schauplatz eröfnet | |||||||
| sehe, wo diese Absicht in weit größerem Umfange zu befördern | |||||||
| ist und mich gleichwohl durch den kleinen Antheil von Lebenskraft, | |||||||
| der mir zugemessen worden, davon ausgeschlossen finde. Gewinn und | |||||||
| Aufsehen auf einer großen Bühne haben, wie Sie wissen, wenig | |||||||
| Antrieb vor mich. Eine friedliche und gerade meiner Bedürfnis angemessene | |||||||
| Situation, abwechselnd mit Arbeit, Spekulation und Umgang | |||||||
| besetzt, wo mein sehr leicht afficirtes, aber sonst sorgenfreyes Gemüth | |||||||
| und mein noch mehr läunischer, doch niemals kranker Körper, ohne | |||||||
| Anstrengung in Beschäftigung erhalten werden, ist alles was ich | |||||||
| gewünscht und erhalten habe. Alle Veränderung macht mich bange, | |||||||
| ob sie gleich den größten Anschein zur Verbesserung meines Zustandes | |||||||
| giebt und ich glaube auf diesen Instinkt meiner Natur Acht haben | |||||||
| zu müssen, wenn ich anders den Faden, den mir die Parzen sehr dünne | |||||||
| und zart spinnen, noch etwas in die Länge ziehen will. Den größesten | |||||||
| Dank also meinen Gönnern und Freunden, die so gütig gegen mich | |||||||
| gesinnet sind, sich meiner Wohlfarth anzunehmen, aber zugleich eine | |||||||
| ergebenste Bitte, diese Gesinnung dahin zu verwenden, mir in meiner | |||||||
| gegenwärtigen Lage alle Beunruhigung (wovon ich zwar noch immer | |||||||
| frey gewesen bin) abzuwehren und dagegen in Schutz zu nehmen. | |||||||
| Ihre medicinische Vorschriften werthester Freund sind mir sehr | |||||||
| willkommen, auf den Nothfall, aber, da sie laxative enthalten, die | |||||||
| überhaupt meine Constitution sehr angreifen und unausbleiblich von | |||||||
| verhärteter Obstruktion gefolgt sind und ich wirklich, wenn die | |||||||
| morgendliche Evacuation nur regelmäßig geschieht, mich nach meiner | |||||||
| Manier d. i. auf schwächliche Art gesund befinde, da ich auch eine | |||||||
| viel bessere Gesundheit niemals genossen habe, so bin ich schließig, | |||||||
| der Natur weiterhin ihre Vorsorge zu überlassen und nur, wenn sie | |||||||
| ihren Beystand versagt, zu Mitteln der Kunst Zuflucht zu nehmen. | |||||||
| Daß von meiner unter Händen habenden Arbeit schon einige Bogen | |||||||
| gedrukt seyn sollen ist zu voreilig verbreitet worden. Da ich von | |||||||
| mir nichts erzwingen will (weil ich noch gerne etwas länger in der | |||||||
| Welt arbeiten möchte) so laufen viel andre Arbeiten zwischen durch. | |||||||
| Sie rückt indessen weiter fort und wird hoffentlich diesen Sommer | |||||||
| fertig werden. Die Ursachen der Verzögerung einer Schrift die an | |||||||
| Bogenzahl nicht viel austragen wird werden Sie dereinst aus der | |||||||
| Natur der Sache und des Vorhabens selbst wie ich hoffe als gegründet | |||||||
| gelten lassen. Tetens, in seinem weitläuftigen Werke über die menschl: | |||||||
| Natur, hat viel scharfsinniges gesagt; aber er hat ohne Zweifel so | |||||||
| wie er schrieb es auch drucken zum wenigsten stehen lassen. Es | |||||||
| kömmt mir vor: daß, da er seinen langen Versuch über die Freyheit | |||||||
| im zweyten Bande schrieb, er immer hoffete er würde vermittelst einiger | |||||||
| Ideen die er im unsicheren Umrisse sich entworfen hatte, sich wohl | |||||||
| aus diesem Labyrinthe herausfinden. Nachdem er sich und seinen | |||||||
| Leser ermüdet hatte blieb die Sache doch so liegen wie er sie gefunden | |||||||
| hatte und er räth dem Leser an seine Empfindung zu befragen - | |||||||
| Wenn dieser Sommer bey mir mit erträglicher Gesundheit hingeht, | |||||||
| so glaube das versprochene Werkchen dem Publikum mittheilen | |||||||
| zu können. | |||||||
| Indem ich dieses schreibe, erhalte ich ein neues gnädiges Schreiben | |||||||
| von des HEn. Etatsministre v. Zedlitz Excell: mit dem wiederholten | |||||||
| Antrage einer Profession in Halle, die ich gleichwohl, aus den schon | |||||||
| angeführten unüberwindlichen Ursachen, abermals verbitten muß. | |||||||
| Da ich zugleich Breitkopfen in Leipzig, auf sein Ansinnen, ihm | |||||||
| die Materie von den Menschen=Racen weitläufiger auszuarbeiten, | |||||||
| antworten muß so muß gegenwartiger Brief bis zur nächsten Post | |||||||
| liegen bleiben. | |||||||
| Grüssen Sie doch HEn Mendelssohn von mir auf das verbindlichste | |||||||
| und bezeigen ihm meinen Wunsch: daß er, in zunehmender Gesundheit, | |||||||
| seines von Natur fröhlichen Herzens und der Unterhaltungen genießen | |||||||
| möge, welche ihm dessen Gutartigkeit zusammt seinem stets fruchtbaren | |||||||
| Geiste verschaffen könne und behalten Sie in Zuneigung u. | |||||||
| Freundschaft | |||||||
| Ihren | stets ergebenen treuen Diener | ||||||
| I Kant | |||||||
| N. S. Ich bitte ergebenst innliegenden Brief | |||||||
| doch auf die Post allenfals mit dem nöthigen | |||||||
| Franco zu geben etc. | |||||||
| [ abgedruckt in : AA X, Seite 230 ] [ Brief 133 ] [ Brief 134a ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] | |||||||