Kant: AA XII, Briefwechsel 1797 , Seite 175 |
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| 01 | ich sagen, wenn ich von der ursprünglichen Synthesis, der ich mir im | ||||||
| 02 | Ziehen einer Linie bewußt bin, wegsehe, dann vergeht mir freylich | ||||||
| 03 | aller Sinn von extensiver Grösse, die ich einem Object beylege, weshalb | ||||||
| 04 | eben das Object meiner Vorstellung, Erscheinung und nicht Ding | ||||||
| 05 | an sich heißt. Gewiß, vortreflicher Mann, wenn Sie mir die Ehre | ||||||
| 06 | erweisen, und ein wenig nur selbst auf diese meine Methode von dem | ||||||
| 07 | Standpunct der Categorien abwärts zu gehen, so wie Sie in Ihrem | ||||||
| 08 | unsterblichen Werk aufwärts gehen, aufmerksam seyn wollten, so würden | ||||||
| 09 | Sie die Thunlichkeit derselben bemerken. Man muß nur innig mit | ||||||
| 10 | dem ganzen Gegenstand vertraut seyn, so kann man besonders im Lehrvortrage, | ||||||
| 11 | mit vieler Leichtigkeit, mit den wahren critischen Principien, | ||||||
| 12 | jeden der Interesse und etwas Talent hat, auf diesem Wege bekannt | ||||||
| 13 | machen. Herr Hofprediger Schultz, den ich immer sehr liebe, seine | ||||||
| 14 | Kenntnisse achte und seiner Redlichkeit wegen hochschätze, hat mich wirklich | ||||||
| 15 | nicht gut vernommen und ich bin betrübt, daß der biedere Mann | ||||||
| 16 | im Stande ist, mich solcher unsinnigen Behauptungen, wie die ist, | ||||||
| 17 | daß der Verstand das Ding macht, fähig zu glauben, deren er mich | ||||||
| 18 | wohl nicht fähig hielt, als er mich als seinen aufmerksamen Schüler | ||||||
| 19 | in der Mathematik lieb hatte. | ||||||
| 20 | Aber ich weiß es, daß Herr Fichte, der, wie es scheint, Anhänger | ||||||
| 21 | sucht, von mir sagt, daß ich mit ihm mich auf einerley Weg befinde, | ||||||
| 22 | so sehr ich auch in einer Recension in Herrn Iakobs Annalen, ja auch | ||||||
| 23 | in meinem Standpunct das Gegentheil gesagt habe. Da ich ihn in | ||||||
| 24 | Iena verlaufene Osterferien besuchte, so wollte er mich wirklich auf | ||||||
| 25 | diese Art berücken. Ein Gespräch mit mir fing er wirklich damit an: | ||||||
| 26 | "Ich weiß es, Sie sind meiner Meynung, daß der Verstand das Ding | ||||||
| 27 | macht." - Er sagte mir manche närrische Sachen und vieleicht ist er | ||||||
| 28 | noch, da ich meinen Mann bald durchsah, von niemanden durch freundliche | ||||||
| 29 | Antworten so verlegen gemacht worden als durch mich. Was ich | ||||||
| 30 | nun noch sagen will ist Folgendes. Fichte sagte mir, daß er in seinem | ||||||
| 31 | neuen Iournal, worin er seine Wissenschaftslehre neu bearbeitet | ||||||
| 32 | hat, und unter andern nur eine Philosophie und keinen Unterschied | ||||||
| 33 | zwischen theoretischer und Moralphilosophie annimmt, weil überall der | ||||||
| 34 | Verstand, durch seine absolute Freyheit die Dinge setzt (ein dummes | ||||||
| 35 | Zeug! wer so reden kann, kann wohl niemals die critischenPrincipien | ||||||
| 36 | beherzigt haben) und daß er darin viel von meinem Standpunct spreche. | ||||||
| 37 | Ich habe nun wohl diese Sachen noch nicht in den Händen gehabt, aber | ||||||
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