Kant: AA XII, Briefwechsel 1797 , Seite 163 |
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| 01 | selbst vollkommen verständlich zu seyn, und daß, bevor man diesen | ||||||
| 02 | Zustand erreicht hat, es auch nicht gut thunlich ist, andern verständlich | ||||||
| 03 | zu werden. Wenn nun Herr Hofprediger Schultz in meinen | ||||||
| 04 | unter dem Titel, die critische Philosophie erläuternden, ihren wahren | ||||||
| 05 | Standpunct darstellenden Schriften, so viel gerade auf den Umsturz | ||||||
| 06 | derselben gerichtete Momente erblickt, daß ich gar fast glaube, der | ||||||
| 07 | würdige, gute, mir sonst sehr liebe Mann möchte mich vieleicht für | ||||||
| 08 | den tückischen Feind derselben halten, der unter der Maske der Anhänglichkeit | ||||||
| 09 | auf ihren Ruin ausgeht, wie ich geneigt bin zu glauben, | ||||||
| 10 | daß er manchen vorgeblichen Freund der christlichen Religion für den | ||||||
| 11 | boshaftesten Widersacher derselben hält, so dürfte dieses wenigstens | ||||||
| 12 | wohl ein Beweis a posteriori seyn, daß ich in meinen Schriften, ob | ||||||
| 13 | ich gleich darin den Boden aller Verständlichkeit ebenen und bearbeiten | ||||||
| 14 | wollte, ich mich doch selbst noch nicht recht wohl darin verstanden habe. | ||||||
| 15 | Mit menschlichen Arbeiten geht es aber nun einmahl nicht anders, | ||||||
| 16 | als daß sie unvollkommen ausfallen und ein Transcendentalphilosoph | ||||||
| 17 | kommt nur nach und nach dahin, die Principien zu allen objectiv gültigen | ||||||
| 18 | Begriffen selbst auf Begriffe zu bringen und sie dann, weil er | ||||||
| 19 | sich dann selbst nicht mehr mißversteht, auch andern so mitzutheilen, | ||||||
| 20 | daß sie ihn verstehen können. Ich glaube daher gar nicht mich schämen | ||||||
| 21 | zu dürfen, wenn ich frey bekenne, daß seit den anderthalb Iahren, da | ||||||
| 22 | ich mit meinem Grundriß fertig wurde, seit welcher Zeit ich jede Gelegenheit | ||||||
| 23 | ergrif, die meine wissenschaftliche Arbeiten mir anboten, um | ||||||
| 24 | mein Auge auf das Object der Transcendentalphilosophie fallen und | ||||||
| 25 | darauf ruhen zu lassen, daß seit dieser Zeit, ich in vielen Stellen die | ||||||
| 26 | Sache besser als vorhin getroffen habe, und daß noch ehe ich Ihren | ||||||
| 27 | Brief erhielt, ich mir schon vorgenommen hatte, Retractationen meiner | ||||||
| 28 | Arbeit abzufassen. Allein ich glaubte dieses Geschäft für eine künftige | ||||||
| 29 | Ausgabe meines Grundrisses aufbewahren zu können. Ich bemerke | ||||||
| 30 | aber, daß ich darunter auch nur solche Retractationen meyne, wie ich | ||||||
| 31 | glaube daß der heil. Augustin meynte. Ich glaube nämlich nicht eben | ||||||
| 32 | Falschheiten in meinen Büchern gesagt zu haben, als vielmehr Unbestimtheiten, | ||||||
| 33 | weil ich selbst noch nicht bestimmt genug gegriffen hatte. | ||||||
| 34 | Denn vortreflicher Mann, ich glaube in ein Paar Worten, den Satz | ||||||
| 35 | der die Seele der critischen Philosophie ist, Ihnen wenigstens so auseinanderlegen | ||||||
| 36 | zu können, daß Sie gewiß sagen sollen: "Du hast | ||||||
| 37 | eigentlich nichts Neues in deinen Schriften gelehrt; aber verstanden | ||||||
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