Kant: AA XII, Briefwechsel 1795 , Seite 021 |
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Text (Kant):
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| 01 | seyn wolle? und das Kind als dann auf die Lehre von Gott und Christo | ||||||
| 02 | zu führen, wodurch es am Ende sich doch nicht im mindesten glücklicher | ||||||
| 03 | fühlt, sondern wohl gar über Gottes Allmacht, Güte etc. viele | ||||||
| 04 | gegründete Zweifel hegt, sollte man meiner Meinung nach, von den, | ||||||
| 05 | im Menschen liegenden Moralbegriffen anfangen, die Gesetzgebung der | ||||||
| 06 | practischen Vernunft deutlich machen, das formale Princip der Moral | ||||||
| 07 | festsetzen, hierauf die Pflichten nach diesem Princip einzeln abhandeln, | ||||||
| 08 | dann zeigen, wie man sich durch ihre uneigennützige Erfüllung der | ||||||
| 09 | höchsten Glückseligkeit würdig mache und durch das Bedürfniß nach | ||||||
| 10 | Glückseligkeit, welches zu befriedigen nicht in unserer Gewalt steht, | ||||||
| 11 | den Catechumenen auf Gott führen, der allein im Stande ist, uns | ||||||
| 12 | eine unserer Würdigkeit angemessene Glückseligkeit zu ertheilen. Wenn | ||||||
| 13 | auf diese Art der practische Vernunftglaube an Gott begründet wäre, | ||||||
| 14 | so könnte man alles das, was der Mensch in Gott zu denken für nöthig | ||||||
| 15 | findet, einzeln durchgehen und endlich auch seine Vorsorge für die Vervollkommung | ||||||
| 16 | und Beglückung des Menschengeschlechts durch die Bekanntmachung | ||||||
| 17 | der Lehre Iesu hinzufügen. Auf diesem Wege würde nicht | ||||||
| 18 | allein der Inhalt der christlischen Lehre mehr Auctorität erlangen, da | ||||||
| 19 | man sähe, daß ihre Lehren mit der reinen Vernunft=Lehren übereinstimmen, | ||||||
| 20 | sondern es würden auch überhaupt alle die Zweifel und Irrthümer | ||||||
| 21 | wegfallen; die bey den theoretischen Beweisen von Gott, Freyheit | ||||||
| 22 | und Unsterblichkeit unvermeidlich sind. Die Freyheit des Willens | ||||||
| 23 | würde sich als ein Factum der Vernunft aufdringen und Gott und eine | ||||||
| 24 | künftige Fortdauer würden ihm Vernunftbedürfnisse seyn, an welche | ||||||
| 25 | ihn ein Vernunftglaube fesselt, den keine speculation wankend zu | ||||||
| 26 | machen vermag. | ||||||
| 27 | Verzeihen Sie theuerster Herr Professor, daß ich hier meinen Gedanken | ||||||
| 28 | freyen Lauf ließ und sie ohne alle Kunst aufs Papier setzte. | ||||||
| 29 | Nichts wäre mir für meine jetzige Lage wichtiger und erfreulicher, als | ||||||
| 30 | wenn Sie verehrungswürdigster Herr Professor, so gütig wären, mir | ||||||
| 31 | Ihr Urtheil zu sagen, ob diese Gedanken an sich richtig und ihre Zusammenordnung | ||||||
| 32 | consequent ist, denn mein Wunsch ist schon lange | ||||||
| 33 | gewesen, den Religionsunterricht auf diese Art einzurichten und die | ||||||
| 34 | Religion selbst, auf die vorhergegangene Moral zu gründen. Ich habe | ||||||
| 35 | auch schon vielfältig darüber nachgedacht, um meine Gedanken zu | ||||||
| 36 | meinem eignen Gebrauch aufzusetzen; aber ohne Ihr Urtheil wage ich | ||||||
| 37 | dies nicht, weil ich mich selbst nicht täuschen will. Bey solcher Arbeit | ||||||
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