Kant: AA IX, Immanuel Kant über ... , Seite 479

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 nachgebe. Im Anfange muß das Kind freilich blindlings gehorchen.      
  02 Es ist unnatürlich, daß das Kind durch sein Geschrei commandire, und      
  03 der Starke einem Schwachen gehorche. Man muß daher nie den Kindern      
  04 auch in der ersten Jugend auf ihr Geschrei willfahren und sie dadurch      
  05 etwas erzwingen lassen. Gemeinhin versehen es die Eltern hierin und      
  06 wollen es dadurch nachher wieder gut machen, daß sie den Kindern in      
  07 späterer Zeit wieder alles, um das sie bitten, abschlagen. Dies ist aber      
  08 sehr verkehrt, ihnen ohne Ursache abzuschlagen, was sie von der Güte      
  09 der Eltern erwarten, blos um ihnen Widerstand zu thun und sie, die      
  10 Schwächeren, die Übermacht der Älteren fühlen zu lassen.      
           
  11 Kinder werden verzogen, wenn man ihren Willen erfüllt, und ganz      
  12 falsch erzogen, wenn man ihrem Willen und ihren Wünschen gerade entgegen      
  13 handelt. Jenes geschieht gemeinhin so lange, als sie ein Spielwerk      
  14 der Eltern sind, vornehmlich in der Zeit, wenn sie zu sprechen beginnen.      
  15 Aus dem Verziehen aber entspringt ein gar großer Schade für das ganze      
  16 Leben. Bei dem Entgegenhandeln gegen den Willen der Kinder verhindert      
  17 man sie zugleich zwar daran, ihren Unwillen zu zeigen, was freilich geschehen      
  18 muß, destomehr aber toben sie innerlich. Die Art, nach der sie      
  19 sich jetzt verhalten sollen, haben sie noch nicht kennen gelernt. - Die Regel,      
  20 die man also bei Kindern von Jugend auf beobachten muß, ist diese,      
  21 daß man, wenn sie schreien, und man glaubt, daß ihnen etwas schade,      
  22 ihnen zu Hülfe komme, daß man aber, wenn sie es aus bloßem Unwillen      
  23 thun, sie liegen lasse. Und ein gleiches Verfahren muß auch nachher unablässig      
  24 eintreten. Der Widerstand, den das Kind in diesem Falle findet,      
  25 ist ganz natürlich und ist eigentlich negativ, indem man ihm nur nicht      
  26 willfahrt. Manche Kinder erhalten dagegen wieder Alles von den Eltern,      
  27 was sie nur verlangen, wenn sie sich aufs Bitten legen. Wenn man die      
  28 Kinder Alles durch Schreien erhalten läßt, so werden sie boshaft, erhalten      
  29 sie aber Alles durch Bitten, so werden sie weichlich. Findet daher keine      
  30 erhebliche Ursache des Gegentheils Statt: so muß man die Bitte des Kindes      
  31 erfüllen. Findet man aber Ursache, sie nicht zu erfüllen: so muß man sich      
  32 auch nicht durch vieles Bitten bewegen lassen. Eine jede abschlägige Antwort      
  33 muß unwiderruflich sein. Sie hat dann zunächst den Effect, da      
  34 man nicht öfter abschlagen darf.*)      
           
           
    *) Es giebt wenige eigentlich schlechte Menschen in der Welt, d. h. solche, die es aus Grundsatz sind. Dagegen aber giebt es viele, die den Charakter verloren haben, [Seitenumbruch] oder richtiger, die nie Charakter hatten, und daraus geht das meiste Übel hervor. Die Hauptaufgabe aller Pädagogik ist demnach die Bildung der Kinder zu einem Charakter nach Begriffen des Rechtes, nicht der Ehre, denn diese letztere schließen den Charakter aus. Die Grundlage dieser Bildung ist das Beispiel, und welches Beispiel kann hier wohl schädlicher wirken, als das des Mangels an eigner Haltung, an eignem Charakter, der auch dem Kinde schon in der schwachen Nachgiebigkeit der Eltern einleuchtet? In dieser eben liegt die Quelle der Charakterlosigkeit der Kinder. A. d. H.      
           
     

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