Kant: AA IX, Immanuel Kant über ... , Seite 446

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Die Erziehung ist eine Kunst, deren Ausübung durch viele Generationen      
  02 vervollkommnet werden muß. Jede Generation, versehen mit den      
  03 Kenntnissen der vorhergehenden, kann immer mehr eine Erziehung zu      
  04 Stande bringen, die alle Naturanlagen des Menschen proportionirlich und      
  05 zweckmäßig entwickelt und so die ganze Menschengattung zu ihrer Bestimmung      
  06 führt. - Die Vorsehung hat gewollt, daß der Mensch das Gute      
  07 aus sich selbst herausbringen soll, und spricht so zu sagen zum Menschen:      
  08 "Gehe in die Welt, - so etwa könnte der Schöpfer den Menschen anreden!      
  09 ich habe dich ausgerüstet mit allen Anlagen zum Guten. Dir      
  10 kommt es zu, sie zu entwickeln, und so hängt dein eignes Glück und Unglück      
  11 von dir selbst ab."      
           
  12 Der Mensch soll seine Anlagen zum Guten erst entwickeln; die Vorsehung      
  13 hat sie nicht schon fertig in ihn gelegt; es sind bloße Anlagen und      
  14 ohne den Unterschied der Moralität. Sich selbst besser machen, sich selbst      
  15 cultiviren und, wenn er böse ist, Moralität bei sich hervorbringen, das soll      
  16 der Mensch. Wenn man das aber reiflich überdenkt, so findet man, da      
  17 dieses sehr schwer sei. Daher ist die Erziehung das größte Problem und      
  18 das schwerste, was dem Menschen kann aufgegeben werden. Denn Einsicht      
  19 hängt von der Erziehung und Erziehung hängt wieder von der Einsicht      
  20 ab. Daher kann die Erziehung auch nur nach und nach einen Schritt      
  21 vorwärts thun, und nur dadurch, daß eine Generation ihre Erfahrungen      
  22 und Kenntnisse der folgenden überliefert, diese wieder etwas hinzu thut      
  23 und es so der folgenden übergiebt, kann ein richtiger Begriff von der      
  24 Erziehungsart entspringen. Welche große Cultur und Erfahrung setzt      
  25 also nicht dieser Begriff voraus? Er konnte demnach auch nur spät entstehen,      
  26 und wir selbst haben ihn noch nicht ganz ins Reine gebracht. Ob      
  27 die Erziehung im Einzelnen wohl der Ausbildung der Menschheit im Allgemeinen      
  28 durch ihre verschiedenen Generationen nachahmen soll?      
           
  29 Zwei Erfindungen der Menschen kann man wohl als die schwersten      
  30 ansehen: die der Regierungs= und die der Erziehungskunst nämlich, und      
  31 doch ist man selbst in ihrer Idee noch streitig.      
           
  32 Von wo fangen wir nun aber an, die menschlichen Anlagen zu entwickeln?      
  33 Sollen wir von dem rohen, oder von einem schon ausgebildeten      
           
     

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