| Kant: AA VIII, Vorrede zu Reinhold Bernhard ... , Seite 441 | |||||||
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| 01 | Prospectus zum inliegenden Werk. | ||||||
| 02 | Philosophie als Lehre einer Wissenschaft kann so wie jede andere | ||||||
| 03 | Doctrin zu allerlei beliebigen Zwecken als Werkzeug dienen, hat aber in | ||||||
| 04 | dieser Hinsicht nur einen bedingten Werth. - Wer dieses oder jenes | ||||||
| 05 | Product beabsichtigt, muß so oder so dabei zu Werke gehen, und wenn man | ||||||
| 06 | hiebei nach Principien verfährt, so wird sie auch eine praktische Philosophie | ||||||
| 07 | heißen können und hat ihren Werth, wie jede andere Waare und | ||||||
| 08 | Arbeit, womit Verkehr getrieben werden kann. | ||||||
| 09 | Aber Philosophie in buchstäblicher Bedeutung des Worts, als Weisheitslehre, | ||||||
| 10 | hat einen unbedingten Werth; denn sie ist die Lehre vom | ||||||
| 11 | Endzweck der menschlichen Vernunft, welcher nur ein einziger sein kann, | ||||||
| 12 | dem alle andere Zwecke nachstehen oder untergeordnet werden müssen, | ||||||
| 13 | und der vollendete praktische Philosoph (ein Ideal) ist der, welcher diese | ||||||
| 14 | Forderung an ihm selbst erfüllt. | ||||||
| 15 | Ob nun Weisheit von oben herab dem Menschen (durch Inspiration) | ||||||
| 16 | eingegossen, oder von unten hinauf durch innere Kraft seiner praktischen | ||||||
| 17 | Vernunft erklimmt werde, das ist die Frage. | ||||||
| 18 | Der, welcher das erstere als passives Erkenntnißmittel behauptet, | ||||||
| 19 | denkt sich das Unding der Möglichkeit einer übersinnlichen Erfahrung, | ||||||
| 20 | welches im geraden Widerspruch mit sich selbst ist, (das Transscendente | ||||||
| 21 | als immanent vorzustellen) und fußt sich auf eine gewisse Geheimlehre, | ||||||
| 22 | Mystik genannt, welche das gerade Gegentheil aller Philosophie ist und | ||||||
| 23 | doch eben darin, daß sie es ist, (wie der Alchemist) den großen Fund setzt, | ||||||
| 24 | aller Arbeit vernünftiger, aber mühsamer Naturforschung überhoben, sich | ||||||
| 25 | im süßen Zustande des Genießens selig zu träumen. | ||||||
| 26 | Diese Afterphilosophie auszutilgen, oder, wo sie sich regt, nicht aufkommen | ||||||
| 27 | zu lassen, hat der Verfasser gegenwärtigen Werks, mein ehemaliger | ||||||
| 28 | fleißiger und aufgeweckter Zuhörer, jetzt sehr geschätzter Freund, in vorliegender | ||||||
| 29 | Schrift mit gutem Erfolg beabsichtigt. Es hat dieselbe der Anpreisung | ||||||
| 30 | meinerseits keinesweges bedurft, sondern ich wollte blos das Siegel | ||||||
| 31 | der Freundschaft gegen den Verfasser zum immerwährenden Andenken | ||||||
| 32 | diesem Buche beifügen. | ||||||
| 33 | Königsberg, I. Kant | ||||||
| 34 | den 14. Januar 1800. | ||||||
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