Kant: AA VIII, Von einem neuerdings erhobenen ... , Seite 396

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Mit dieser vorgegebenen Fühlbarkeit eines Gegenstandes, der doch      
  02 bloß in der reinen Vernunft angetroffen werden kann, hat es nun folgende      
  03 Bewandtniß. - Bisher hatte man nur von drei Stufen des Fürwahrhaltens      
  04 bis zum Verschwinden desselben in völlige Unwissenheit gehört:      
  05 dem Wissen, Glauben und Meinen.*) Jetzt wird eine neue angebracht,      
           
    *) Man bedient sich des mittelsten Worts im theoretischen Verstande auch bisweilen als gleichbedeutend mit dem etwas für wahrscheinlich halten; und da muß wohl bemerkt werden, daß von dem, was über alle mögliche Erfahrungsgränze hinausliegt, weder gesagt werden kann, es sei wahrscheinlich, noch es sei unwahrscheinlich, mithin auch das Wort Glaube in Ansehung eines solchen Gegenstandes in theoretischer Bedeutung gar nicht Statt findet. - Unter dem Ausdruck: dieses oder jenes ist wahrscheinlich, versteht man ein Mittelding (des Fürwahrhaltens) zwischen Meinen und Wissen; und da geht es ihm so wie allen andern Mitteldingen: daß man daraus machen kann, was man will. Wenn aber jemand z. B. sagt: es ist wenigstens wahrscheinlich, daß die Seele nach dem Tode lebe, so weiß er nicht, was er will. Denn wahrscheinlich heißt dasjenige, was, für wahr gehalten, mehr als die Hälfte der Gewißheit (des zureichenden Grundes) auf seiner Seite hat. Die Gründe also müssen insgesammt ein partiales Wissen, einen Theil der Erkenntniß des Objects, worüber geurtheilt wird, enthalten. Ist nun der Gegenstand gar kein Object einer uns möglichen Erkenntniß (dergleichen die Natur der Seele, als lebender Substanz auch außer der Verbindung mit einem Körper, d. i. als Geist, ist): so kann über die Möglichkeit [Seitenumbruch] derselben weder wahrscheinlich noch unwahrscheinlich, sondern gar nicht geurtheilt werden. Denn die vorgeblichen Erkenntnißgründe sind in einer Reihe, die sich dem zureichenden Grunde, mithin dem Erkenntniß selbst gar nicht nähert, indem sie auf etwas Übersinnliches bezogen werden, von dem als einem solchen kein theoretisches Erkenntniß möglich ist. Eben so ist es mit dem Glauben an ein Zeugniß eines Andern, das etwas Übersinnliches betreffen soll, bewandt. Das Fürwahrhalten eines Zeugnisses ist immer etwas Empirisches; und die Person, der ich auf ihr Zeugniß glauben soll, muß ein Gegenstand einer Erfahrung sein. Wird sie aber als ein übersinnliches Wesen genommen: so kann ich von ihrer Existenz selber, mithin daß es ein solches Wesen sei, welches mir dieses bezeugt, durch keine Erfahrung belehrt werden (weil das sich selbst widerspricht), auch nicht aus der subjectiven Unmöglichkeit mir die Erscheinung eines mir gewordenen inneren Zurufs anders als aus einem übernatürlichen Einfluß erklären zu können darauf schließen (zufolge dem, was eben von der Beurtheilung nach Wahrscheinlichkeit gesagt worden). Also giebt es keinen theoretischen Glauben an das Übersinnliche. In praktischer (moralisch=praktischer) Bedeutung aber ist ein Glaube an das Übersinnliche nicht allein möglich, sondern er ist sogar mit dieser unzertrennlich verbunden. Denn die Summe der Moralität in mir, obgleich übersinnlich, mithin nicht empirisch, ist dennoch mit unverkennbarer Wahrheit und Autorität (durch einen kategorischen Imperativ) gegeben, welche aber einen Zweck gebietet, der, theoretisch betrachtet, ohne eine darauf hinwirkende Macht eines Weltherrschers, durch meine Kräfte allein, unausführbar ist (das höchste Gut). An ihn aber moralisch praktisch glauben, heißt nicht seine Wirklichkeit vorher theoretisch für wahr annehmen, damit man, jenen gebotenen Zweck zu verstehen, Aufklärung und, zu bewirken, Triebfedern bekomme: denn dazu ist das Gesetz der Vernunft schon für sich objectiv hinreichend; sondern um nach dem Ideal jenes Zwecks so zu handeln, als ob eine solche Weltregierung wirklich wäre: weil jener Imperativ (der nicht das Glauben, sondern das Handeln gebietet) auf Seiten des Menschen Gehorsam und Unterwerfung seiner Willkür unter dem Gesetz, von Seiten des ihm einen Zweck gebietenden Willens aber zugleich ein dem Zweck angemessenes Vermögen (das nicht das menschliche ist) enthält, zu dessen Behuf die menschliche Vernunft zwar die Handlungen, aber nicht den Erfolg der Handlungen (die Erreichung des Zwecks) gebieten kann, als der nicht immer oder ganz in der Gewalt des Menschen ist. Es ist also in dem kategorischen Imperativ der der Materie nach praktischen Vernunft, welcher zum Menschen sagt: ich will, daß deine Handlungen zum Endzweck aller Dinge zusammenstimmen, schon die Voraussetzung eines gesetzgebenden Willens, der alle Gewalt enthält, (des göttlichen) zugleich gedacht und bedarf es nicht besonders aufgedrungen zu werden.      
           
     

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