Kant: AA VIII, Über den Gemeinspruch Das ... , Seite 277 |
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| 01 | Willens auszugehen, wenn diese nicht auch in der Erfahrung (sie mag | ||||||
| 02 | nun als vollendet, oder der Vollendung sich immer annähernd gedacht | ||||||
| 03 | werden) möglich wäre; und von dieser Art der Theorie ist in gegenwärtiger | ||||||
| 04 | Abhandlung nur die Rede. Denn von ihr wird zum Skandal der Philosophie | ||||||
| 05 | nicht selten vorgeschützt, daß, was in ihr richtig sein mag, doch für | ||||||
| 06 | die Praxis ungültig sei: und zwar in einem vornehmen wegwerfenden Ton | ||||||
| 07 | voll Anmaßung, die Vernunft selbst in dem, worin sie ihre höchste Ehre | ||||||
| 08 | setzt, durch Erfahrung reformiren zu wollen; und in einem Weisheitsdünkel | ||||||
| 09 | mit Maulwurfsaugen, die auf die letztere geheftet sind, weiter und | ||||||
| 10 | sicherer sehen zu können, als mit Augen, welche einem Wesen zu Theil geworden, | ||||||
| 11 | das aufrecht zu stehen und den Himmel anzuschauen gemacht war. | ||||||
| 12 | Diese in unsern spruchreichen und thatleeren Zeiten sehr gemein gewordene | ||||||
| 13 | Maxime richtet nun, wenn sie etwas Moralisches (Tugend= oder | ||||||
| 14 | Rechtspflicht) betrifft, den größten Schaden an. Denn hier ist es um den | ||||||
| 15 | Kanon der Vernunft (im Praktischen) zu thun, wo der Werth der Praxis | ||||||
| 16 | gänzlich auf ihrer Angemessenheit zu der ihr untergelegten Theorie beruht, | ||||||
| 17 | und Alles verloren ist, wenn die empirischen und daher zufälligen Bedingungen | ||||||
| 18 | der Ausführung des Gesetzes zu Bedingungen des Gesetzes | ||||||
| 19 | selbst gemacht und so eine Praxis, welche auf einen nach bisheriger Erfahrung | ||||||
| 20 | wahrscheinlichen Ausgang berechnet ist, die für sich selbst bestehende | ||||||
| 21 | Theorie zu meistern berechtigt wird. | ||||||
| 22 | Die Eintheilung dieser Abhandlung mache ich nach den drei verschiedenen | ||||||
| 23 | Standpunkten, aus welchen der über Theorien und Systeme so | ||||||
| 24 | keck absprechende Ehrenmann seinen Gegenstand zu beurtheilen pflegt; | ||||||
| 25 | mithin in dreifacher Qualität: 1) als Privat=, aber doch Geschäftsmann, | ||||||
| 26 | 2) als Staatsmann, 3) als Weltmann (oder Weltbürger überhaupt). | ||||||
| 27 | Diese drei Personen sind nun darin einig, dem Schulmann | ||||||
| 28 | zu Leibe zu gehen, der für sie alle und zu ihrem Besten Theorie bearbeitet: | ||||||
| 29 | um, da sie es besser zu verstehen wähnen, ihn in seine Schule zu weisen | ||||||
| 30 | ( illa se iactet in aula! ), als einen Pedanten, der, für die Praxis verdorben, | ||||||
| 31 | ihrer erfahrenen Weisheit nur im Wege steht. | ||||||
| 32 | Wir werden also das Verhältniß der Theorie zur Praxis in drei | ||||||
| 33 | Nummern: erstlich in der Moral überhaupt (in Absicht auf das Wohl | ||||||
| 34 | jedes Menschen), zweitens in der Politik (in Beziehung auf das Wohl | ||||||
| 35 | der Staaten), drittens in kosmopolitischer Betrachtung (in Absicht | ||||||
| 36 | auf das Wohl der Menschengattung im Ganzen, und zwar so fern sie | ||||||
| 37 | im Fortschreiten zu demselben in der Reihe der Zeugungen aller künftigen | ||||||
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