Kant: AA VIII, Über eine Entdeckung, nach ... , Seite 196 |
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| 01 | Euklides selbst soll "unter seinen Axiomen Sätze haben, die | ||||||
| 02 | wohl noch eines Beweises bedürfen, die aber ohne Beweis vorgetragen | ||||||
| 03 | werden." Nun setzt er, indem er vom Mathematiker redet, hinzu: "So | ||||||
| 04 | bald man ihm eines von seinen Axiomen leugnet: so fallen freilich auch | ||||||
| 05 | alle Lehrsätze, die von dem selben abhängen. Das ist aber ein so seltener | ||||||
| 06 | Fall, daß er nicht glaubt ihm die unverwickelte Leichtigkeit seines Vortrages | ||||||
| 07 | und die schönen Verhältnisse seines Lehrgebäudes aufopfern zu | ||||||
| 08 | müssen. Die Philosophie muß gefälliger sein." Es giebt also doch jetzt | ||||||
| 09 | auch eine licentia geometrica, so wie es längst eine licentia poetica gegeben | ||||||
| 10 | hat. Wenn doch die gefällige Philosophie (im Beweisen, wie | ||||||
| 11 | gleich darauf gesagt wird) auch so gefällig gewesen wäre, ein Beispiel aus | ||||||
| 12 | dem Euklid anzuführen, wo er einen Satz, der mathematisch erweislich | ||||||
| 13 | ist, als Axiom aufstelle; denn was blos philosophisch (aus Begriffen) bewiesen | ||||||
| 14 | werden kann, z. B. das Ganze ist größer als sein Theil, davon gehört | ||||||
| 15 | der Beweis nicht in die Mathematik, wenn ihre Lehrart nach aller | ||||||
| 16 | Strenge eingerichtet ist. | ||||||
| 17 | Nun folgt die verheißene Demonstration. Es ist gut, daß sie nicht | ||||||
| 18 | weitläuftig ist; um desto mehr fällt ihre Bündigkeit in die Augen. Wir | ||||||
| 19 | wollen sie also ganz hersetzen. "Alles hat entweder einen Grund, oder | ||||||
| 20 | nicht alles hat einen Grund. Im letztern Falle könnte also etwas möglich | ||||||
| 21 | und denkbar sein, dessen Grund nichts wäre. - Wenn aber von zwei entgegengesetzten | ||||||
| 22 | Dingen Eines ohne zureichenden Grund sein könnte: so könnte | ||||||
| 23 | auch das Andere von den beiden Entgegengesetzten ohne zureichenden Grund | ||||||
| 24 | sein. Wenn z. B. eine Portion Luft sich gegen Osten bewegen und also der | ||||||
| 25 | Wind gegen Osten wehen könnte, ohne daß im Osten die Luft wärmer | ||||||
| 26 | und verdünnter wäre, so würde diese Portion Luft sich eben so gut gegen | ||||||
| 27 | Westen bewegen können, als gegen Osten; dieselbe Luft würde sich also | ||||||
| 28 | zugleich nach zwei entgegengesetzten Richtungen bewegen können, nach | ||||||
| 29 | Osten und Westen zu, und also gegen Osten und nicht gegen Osten, d. i. es | ||||||
| 30 | könnte etwas zugleich sein und nicht sein, welches widersprechend und unmöglich | ||||||
| 31 | ist." | ||||||
| 32 | Dieser Beweis, durch den sich der Philosoph für die Gründlichkeit | ||||||
| 33 | noch gefälliger bezeigen soll, als selbst der Mathematiker, hat alle Eigenschaften, | ||||||
| 34 | die ein Beweis haben muß, um in der Logik zum Beispiele zu dienen, | ||||||
| 35 | - wie man nicht beweisen soll. - Denn erstlich ist der zu beweisende | ||||||
| 36 | Satz zweideutig gestellt, so daß man aus ihm einen logischen, oder auch | ||||||
| 37 | transscendentalen Grundsatz machen kann, weil das Wort Alles ein jedes | ||||||
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