Kant: AA VIII, Was heißt: Sich im Denken ... , Seite 141

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Vernunftglaube ist der, welcher sich auf keine andere Data gründet als      
  02 die, so in der reinen Vernunft enthalten sind. Aller Glaube ist nun      
  03 ein subjectiv zureichendes, objectiv aber mit Bewußtsein unzureichendes      
  04 Fürwahrhalten; also wird er dem Wissen entgegengesetzt. Andrerseits,      
  05 wenn aus objectiven, obzwar mit Bewußtsein unzureichenden, Gründen      
  06 etwas für wahr gehalten, mithin bloß gemeint wird: so kann dieses      
  07 Meinen doch durch allmählige Ergänzung in derselben Art von Gründen      
  08 endlich ein Wissen werden. Dagegen wenn die Gründe des Fürwahrhaltens      
  09 ihrer Art nach gar nicht objectiv gültig sind, so kann der Glaube      
  10 durch keinen Gebrauch der Vernunft jemals ein Wissen werden. Der      
  11 historische Glaube z. B. von dem Tode eines großen Mannes, den einige      
  12 Briefe berichten, kann ein Wissen werden, wenn die Obrigkeit des      
  13 Orts denselben, sein Begräbniß, Testament etc. meldet. Daß daher      
  14 etwas historisch bloß auf Zeugnisse für wahr gehalten, d. i. geglaubt      
  15 wird, z. B. daß eine Stadt Rom in der Welt sei, und doch derjenige, der      
  16 niemals da gewesen, sagen kann: ich weiß, und nicht bloß: ich      
  17 glaube, es existire ein Rom, das steht ganz wohl beisammen. Dagegen      
  18 kann der reine Vernunftglaube durch alle natürliche Data      
  19 der Vernunft und Erfahrung niemals in ein Wissen verwandelt      
  20 werden, weil der Grund des Fürwahrhaltens hier bloß subjectiv,      
  21 nämlich ein nothwendiges Bedürfniß der Vernunft, ist (und, so lange      
  22 wir Menschen sind, immer bleiben wird), das Dasein eines höchsten      
  23 Wesens nur vorauszusetzen, nicht zu demonstriren. Dieses Bedürfniß      
  24 der Vernunft zu ihrem sie befriedigenden theoretischen Gebrauche      
  25 würde nichts anders als reine Vernunfthypothese sein, d. i. eine      
  26 Meinung, die aus subjectiven Gründen zum Fürwahrhalten zureichend      
  27 wäre: darum, weil man gegebene Wirkungen zu erklären niemals      
  28 einen andern als diesen Grund erwarten kann, und die Vernunft doch einen      
  29 Erklärungsgrund bedarf. Dagegen der Vernunftglaube, der auf      
  30 dem Bedürfniß ihres Gebrauchs in praktischer Absicht beruht, ein      
  31 Postulat der Vernunft heißen könnte: nicht als ob es eine Einsicht wäre,      
  32 welche aller logischen Forderung zur Gewißheit Genüge thäte, sondern      
  33 weil dieses Fürwahrhalten (wenn in dem Menschen alles nur moralisch      
  34 gut bestellt ist) dem Grade nach keinem Wissen nachsteht*), ob es gleich      
  35 der Art nach davon völlig unterschieden ist.      
           
           
    *) Zur Festigkeit des Glaubens gehört das Bewußtsein seiner Unveränderlichkeit. nun kann ich völlig gewiß sein, daß mir niemand den Satz: [Seitenumbruch] Es ist ein Gott, werde widerlegen können; denn wo will er diese Einsicht hernehmen? Also ist es mit dem Vernunftglauben nicht so, wie mit dem historischen bewandt, bei dem es immer noch möglich ist, daß Beweise zum Gegentheil aufgefunden würden, und wo man sich immer noch vorbehalten muß, seine Meinung zu ändern, wenn sich unsere Kenntniß der Sachen erweitern sollte.      
           
     

[ Seite 140 ] [ Seite 142 ] [ Inhaltsverzeichnis ]